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Mit dem Mut der Verzweiflung?
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Mit dem Mut der Verzweiflung?

Der digitale Journalismus ermöglicht neue Formen für die Recherche, Aufbereitung und Vermarktung publizistischer Inhalte. Steht dem Journalismus ein goldenes Zeitalter bevor oder wird er zur Restgröße der Online-Ökonomie?

TEXT Malte Werner  |  ILLUSTRATIONEN Andreas Homann

Als die amerikanische Radiojournalistin Tamar Charney Anfang des Jahres ihren Schreibtisch beim Sender Michigan Radio räumte, stieß sie auf ein Relikt aus längst vergangenen Tagen: ihren Rolodex. Die rotierenden Karteikärtchen, auf denen Journalisten einst die Kontaktdaten ihrer Quellen hüteten, stammen aus einer Zeit, erinnert sich Charney, in der man in die Bücherei fuhr, um eine Telefonnummer aus einer anderen Stadt zu recherchieren. Für Digital Natives mag es schwer vorstellbar sein, aber so lange ist das noch gar nicht her. Heute ist der Rolodex reif fürs Museum. An seine Stelle tritt das Smartphone. In diesem digitalen Alleskönner manifestiert sich die digitale Disruption, die den Journalismus derzeit umkrempelt.

Blickt man allein auf das technisch Machbare, steht dem Journalismus ein neues goldenes Zeitalter bevor. Mathias Müller von Blumencron, Digital-Chef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, nennt das Internet in einem Interview mit dem Branchendienst Horizont »das beste Instrument, was Journalisten je an die Hand gegeben wurde«.
Warum? Multimediales Storytelling vereint die Stärken aller Mediengattungen. Mit Tools wie Linius vom Bayerischen Rundfunk kann jede Redaktion, auch solche privatrechtlicher Medien, Inhalte crossmedial aufbereiten. Datenjournalisten können anhand interaktiver Grafiken komplexe Sachverhalte leicht verständlich darstellen. Und mithilfe sozialer Medien erfahren Redaktionen von unvorhergesehenen Ereignissen, ohne dass sich Journalisten am Ort des Geschehens befinden. Im Syrien-Konflikt sind Internetvideos für Fernsehsender oft die einzige Bildquelle aus dem Krisengebiet. Zwar ist die Überprüfung solcher Inhalte auf ihre Echtheit mühsam. Die Vielzahl der Recherchequellen und neue Formen des Fact-Checking wie das partizipative Crowdsourcing wiegen das jedoch auf. Außerdem waren die Möglichkeiten zum Dialog mit dem Publikum nie zuvor effizienter.

TIEFGREIFENDE STRUKTURKRISE

Der günstigen Ausgangslage zum Trotz äußerte sich der bis dato als technikbegeisterter Berufsoptimist bekannte Richard Gutjahr während der Österreichischen Journalismustage in Wien pessimistisch. »Ich habe viel ausprobiert in meinem Journalisten-Leben«, sagte er. »Heute stehe ich vor Ihnen und ich bin ratloser denn je.« Wie passt das zusammen? Viele sehen die Medienbranche in einer tiefgreifenden Strukturkrise. Allein seit der Jahrtausendwende haben die deutschen Zeitungsverlage ein Drittel ihrer Auflage und ein Fünftel ihrer Gesamtumsätze eingebüßt. Die Folge: Lokalteile werden ausgedünnt, Redaktionen werden kleiner, freie Mitarbeiter – wie zuletzt beim Berliner Tagesspiegel – freigestellt. Angesichts der dramatischen Zahlen wurden schon diverse Todeszeitpunkte für die gedruckte Zeitung prognostiziert. Wahrscheinlicher ist, dass gedruckte Nachrichten irgendwann ein Nischendasein fristen. Denn das Zeitalter der traditionellen Medien geht zu Ende, auch wenn es bei Fernsehen und Hörfunk etwas länger dauern könnte. In den USA ist längst von Legacy Media die Rede. Legacy heißt auf Deutsch Vermächtnis – oder Altlast.

Mit dem Platzen der Dotcom-Blase zum Jahrtausendwechsel trat die Ursünde der Verlage, ihre Inhalte im Netz zu verschenken, ohne Alternativen zum traditionellen Geschäftsmodell von Verkaufs- und Werbeerlösen gefunden zu haben, offen zutage. Nur wenige Optimisten wie Gutjahr oder der Münchener Berater und Blogger Christian Jakubetz redeten der verunsicherten Branche damals ins Gewissen, den digitalen Wandel als Chance zu begreifen. Offenbar mit Erfolg. Die Hoffnungslosigkeit ist (Zweck-)Optimismus gewichen. Die Aufbruchstimmung in der Branche zeigt sich daran, dass das ewige Lamento, mit Journalismus sei im Netz kein Geld zu verdienen, vorerst verstummt ist. Der Verlag Axel Springer SE hat sich zwar nahezu vollständig des vermeintlich perspektivlosen Journalismus entledigt, um den Umbau des Verlagshauses in einen Digitalkonzern voranzutreiben. Doch nun sucht man dort und in anderen Häusern neue Finanzierungsmodelle, Vermarktungswege und Kooperationen.

QUALITÄT KOSTET!

Zentral an der Experimentierfreude im Journalismus ist die Rückbesinnung auf die eigene Wertigkeit. Qualität kostet! Weil es überall im Netz frei zugängliche Informationen gibt, braucht es aber überzeugende Argumente, um die Nutzer zum Zahlen zu bewegen. Dass dies gelingen kann, zeigen Crowdfunding-Beispiele wie das Blog The Dish oder die niederländische Nachrichtenplattform De Correspondent. In Deutschland machten vor allem die Krautreporter von sich reden, die 2014 einen erheblichen Vorschuss an Geld und Vertrauen einwerben konnten. Zwar erfüllte das Projekt nicht die Erwartungen der meisten Unterstützer – dennoch zeigen alle Beispiele, dass es grundsätzlich die Bereitschaft gibt, für Online-Inhalte zu zahlen. Nur lässt sich aus diesen erfreulichen Einzelfällen noch kein veritabler Trend ableiten. Jakubetz sieht angesichts des Potenzials, das der digitale Wandel für die Branche birgt, deshalb auch »kein drängendes Journalismus-, sondern ein Finanzierungsproblem«.

Ein Lösungsansatz heißt Paywall: Der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger listet aktuell 113 Zeitungstitel (von rund 350) mit kostenpflichtigen Online-Inhalten auf. Mehr als die Hälfte versucht es mit sogenannten Freemium-Modellen, bei denen Leser nur für »exklusive« Geschichten zahlen. Knapp ein Drittel setzt auf ein Metered Modell, bei dem die Bezahlschranke erst nach einer bestimmten Anzahl gelesener Artikel greift. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) verdient damit in etwa so viel wie mit digitaler Werbung. Doch selbst die New York Times, die mit dem Modell eine Million Abonnenten gewinnen konnte, erwirtschaftet im Internet (Abos und Werbung) nur ein Drittel ihres Gesamtumsatzes. Der amerikanische Medienexperte Ken Doctor bilanziert nüchtern, zwei Drittel des Umsatzes seien immer noch abhängig von toten Bäumen. Eine harte Bezahlschranke ohne kostenlose Inhalte testet in Deutschland lediglich eine Handvoll Redaktionen.

Ergänzend zur Paywall setzen die Verlage Hoffnungen in ein Vertriebsmodell, das bereits die Musikindustrie revolutioniert hat: das sogenannte Unbundling. Im Online-Kiosk Blendle können Leser einzelne Artikel aus mehr als hundert Zeitungen und Zeitschriften auswählen, statt eine ganze Zeitung kaufen zu müssen. Micropayment-Modelle wie LaterPay oder Flattr konnten sich bisher nicht durchsetzen. Der Dienst Readly versucht Magazinleser daher mit einem Flatrate-Angebot zu überzeugen. Auch wenn zahlende Leser nach Ansicht von Ken Doctor wichtiger sind als je zuvor, wird deren Zahlungsmoral die Branche nicht retten. Wie der alljährlich vom amerikanischen PEW Research Center herausgegebene State of the Media Report bilanziert, bleiben maßgebliche Umsätze im Digitalgeschäft für die traditionellen Medien Wunschdenken. Trotz steigender Werbeeinnahmen im World Wide Web.
 

Es war vor allem die Jagd nach dem Klick, die dem Ruf des Journalismus im Internet geschadet hat.


DIE JAGD NACH DEN KLICKS

Das zentrale Problem bringt der New Yorker Journalismus-Professor Jeff Jarvis auf den Punkt: »Advertising sucks.« Wegen Pop-Up-Werbefenstern und Layer-Ads, die sich über den Bildschirm legen, werden Ad-Blocker immer beliebter. Der durch die Software zur Unterdrückung von Werbung verursachte Schaden soll allein für das Jahr 2015 mehr als 19 Milliarden Euro betragen. Zwar sind solche Zahlen mit Vorsicht zu genießen, doch je mehr Menschen Ad-Blocker nutzen und diese Werbeform dadurch entwerten, desto stärker leiden werbefinanzierte Medien.
Was also tun, wenn das auf Klicks basierende Anzeigenmodell versagt? Die aussichtsreichste Alternative heißt Native Advertising – Werbung in der Anmutung redaktioneller Inhalte. Nicht nur Jarvis sorgt sich angesichts dieses Trends um die Integrität des Journalismus. Zumal der Erfolg des neuen Formats umstritten ist. Die Internetanalysten von Chartbeat fanden heraus, dass Native Ads deutlich weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen als redaktionelle Inhalte.

Nach Ansicht von Volker Lilienthal, Inhaber der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg, erweisen sich die Medien in einer Zeit, in der nichts so sehr in Zweifel gezogen wird wie die Glaubwürdigkeit, mit Native Ads einen Bärendienst. »Wenn die Medien direkt neben den guten Inhalten ihrer Journalisten Fake-Artikel platzieren, die so tun, als seien sie neutral recherchiert, obwohl es sich tatsächlich um getarnte Reklame handelt, wird die Grenze zwischen Redaktion und Werbung fahrlässig aufgehoben«, moniert Lilienthal.

Nicht von ungefähr trieb die bereits erwähnten Krautreporter die von vielen missverstandene Erkenntnis an: »Der Onlinejournalismus ist kaputt.« Hauptsache schnell und klickträchtig schien die bestimmende Devise in den Redaktionen zu sein. Zumindest konnte dieser Eindruck angesichts aufgeblasener Bilderstrecken und unsinniger Live-Ticker entstehen. Indes bezeichnet Chartbeat-Chef Tony Haile die Annahme, Nutzer läsen, worauf sie klickten, als Mythos. Mehr als die Hälfte von ihnen verbleibe weniger als 15 Sekunden auf einer Website. Auch Shares, Likes und Retweets sollten nach Ansicht des amerikanischen Experten nicht überbewertet werden.
Tendenz 01/2016 der BLM
- Illustration zu digitaler Journalismus


ALGORITHMUS STATT JOURNALISMUS?

Im Internet hat sich eine neue Art des Publizierens herausgebildet, die in besonderer Weise die Aufmerksamkeit der Leser anspricht, um möglichst viele Klicks zu generieren. Beim sogenannten Clickbaiting soll der Leser durch eine emotionale, direkte Ansprache (»Du wirst nicht glauben, was dann geschah…«) zum Klicken verführt werden. Perfektioniert hat das die Seite Buzzfeed, deren deutscher Ableger als Plattform für belanglosen Cat-Content bekannt wurde. Doch hinter dem vor allem im englischsprachigen Raum erfolgreichen Angebot steckt ein auf Algorithmen basierendes System, welches auch das harte Nachrichtengeschäft revolutionieren könnte.

Dirk von Gehlen, Leiter der Abteilung Social Media und Innovation bei der Süddeutschen Zeitung, erwartet, dass Algorithmen »zu den Torwächtern der Zukunft« werden. Sie übernähmen damit die Funktion der Journalisten, Nachrichten auf Basis ihrer Relevanz auszuwählen. In sozialen Netzwerken erstellen Computerprogramme längst aus unseren digitalen Spuren ein Profil unserer vermeintlichen Vorlieben und kreieren ein darauf abgestimmtes Informationsangebot. So entsteht das, was Eli Pariser, Gründer der Website Upworthy, die Filterblase nennt.
Im Hinblick auf die öffentliche Funktion des Journalismus sind solche Selektionskriterien problematisch, weil nicht mehr die gesellschaftliche Relevanz die Publikationswürdigkeit eines Beitrags bestimmt, sondern die größtmögliche zu erreichende Aufmerksamkeit. Die Angst vor dem Ende der Ära journalistischer Relevanzkriterien ist indes unbegründet. Doch wer Algorithmen bisher nicht ernst genommen hat, sollte einen Blick auf den Wirtschaftsdienst der Nachrichtenagentur Associated Press werfen. Dort übernimmt ein Computerprogramm lästige Redakteursaufgaben und schreibt Tausende Quartalsberichte von Unternehmen im Jahr. Algorithmen helfen auch dabei, riesige Datenmengen wie bei den »Offshore-Leaks«-Enthüllungen systematisch auszuwerten.

Die größte Konkurrenz für die etablierten Medien geht gegenwärtig aber nicht vom Roboterjournalismus aus, sondern von Internetkonzernen aus dem Silicon Valley. In den USA konsumiert bereits fast die Hälfte der Internetnutzer Nachrichten über Facebook, anstatt News-Websites direkt anzusteuern. Bis zu vierzig Prozent des Traffics auf Nachrichtenseiten sollen auf soziale Netzwerke zurückzuführen sein. Googles Anteil ist nur unwesentlich kleiner.
Einerseits sind die Verlage also auf die Tech-Giganten angewiesen, wie Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner bereits 2014 in einem offenen Brief an Google-Chef Eric Schmidt einräumte. Andererseits können die Verlage mit einem Produkt aufwarten, das die Nutzer auf den großen Plattformen nachfragen: hochwertigen Journalismus. Den haben die Internetfirmen (noch) nicht im Portfolio.

CONTENT MIT KONTROLLVERLUST

Im vergangenen Jahr kam es zu ersten Kooperationen zwischen den verzweifelt nach neuen Geschäftsmodellen suchenden Medienhäusern und den expansionsfreudigen Tech-Unternehmen. Ein Beispiel sind die Instant Articles von Facebook: Statt wie bisher Artikel auf Facebook zu verlinken, um Nutzer auf die eigene Website zu lotsen, veröffentlichen die teilnehmenden Medienhäuser (z.B. Springer, Spiegel Online) ihren Content nun direkt auf der Plattform. Die eigene Website verliert damit an Bedeutung und auch die redaktionelle Unabhängigkeit wird eingeschränkt. Denn die Internetkonzerne behalten sich das Recht vor, alles, was nicht ihren Community Standards entspricht, zu löschen. Sie selbst scheinen gleichzeitig auf dem Weg zu eigenständigen Sendern und Verlagen.

Experte Gutjahr nennt den Verlust der Kontrolle über die eigenen Inhalte als Tauschgeschäft gegen Reichweite einen »Aderlass«. Andererseits sieht er Vorteile für freie Journalisten, die bald nicht mehr an die klassischen Medien gebunden seien. Er rechnet damit, dass Beteiligungsmodelle wie bei YouTube entstehen und die Plattformen so auch finanziell interessant werden. Außerdem stellen die Konzerne gerade reihenweise Journalisten ein und entlocken der Medienbranche die klügsten Köpfe. Emily Bell vom Tow Center for Digital Journalism an der Columbia University bezeichnet die Internetwirtschaft deshalb auch als »Freind« (englisch: Frenemy), eine Mischung aus Freund und Feind.

Der Grund für die argwöhnisch beäugten Kooperationen ist das veränderte Mediennutzungsverhalten des Publikums. Das eine lineare, gebündelte Medienprodukt für alle, wie es die Zeitung oder die Tagesschau sind, verliert an Bedeutung. Individualisierten Angeboten gehört die Zukunft – zumindest wenn man sich an den Millennials orientiert. Diese  zugegeben recht heterogene Zielgruppe der 18- bis 35-Jährigen gilt als Trendbarometer für die Mediennutzung der Zukunft – und die ist mobil. Im State of the Media Report heißt es, dass Anfang 2015 mehr Zugriffe auf große amerikanische Nachrichtenwebsites von mobilen Endgeräten kamen als von Computern.
Für die Nachrichtenmacher gilt es, dem Publikum ein für alle Bildschirme geeignetes, responsives Design anzubieten. Auch passen lange Lesestücke oder klassische Fernsehbeiträge nicht mehr zum »News-to-go«-Rezeptionsverhalten. Vor allem aber müssen immer mehr Ausspielwege ausprobiert werden, um den Leser dort zu erreichen, wo er sich im digitalen Raum bewegt.

Die meisten Redaktionen hecheln der rasenden Online-Entwicklung stets hinterher. Weil die Nutzerzahlen von Messenger-Diensten rasant wachsen, verbreiten Redaktionen ihren Content nun auch per WhatsApp. Einige experimentieren neuerdings mit Snapchat. In immer kürzer werdenden Abständen tauchen neue Plattformen, Dienste oder Technologien auf, die als das nächste große Ding gefeiert werden. Dabei zeigen Google Glass oder die Apple Watch, dass sich nicht hinter jedem Hype auch ein substanzieller Fortschritt verbirgt.
Um das journalistische Potenzial möglichst vieler Trends auszuprobieren, schaffen sich die Verlage Spielwiesen. Bento (Spiegel Online), ze.tt (Zeit Online), BYou (Bild.de), Himate (Südkurier) oder Orange (Handelsblatt) orientieren sich sprachlich (Hashtag-Überschriften), inhaltlich (Snackable News) und technisch (Listicles, Videostreaming) an den Millennials. Auch auf Native Ads wird gesetzt, auf Paid Content dagegen nicht –  vermutlich mit Rücksicht auf die volatile Leserschaft.

Die Transformation des Journalismus ins digitale Zeitalter fordert Printmedien derzeit am stärksten heraus.


NEUER UMGANG MITDEM PUBLIKUM

Überhaupt rücken Leser, Hörer und Zuschauer verstärkt in den Fokus der Journalisten. Die Medienforscher am Hamburger Hans-Bredow-Institut sprechen gar von der Wiederentdeckung des Publikums«. Der britische Guardian lädt Nutzer ein, eigene Fotos und Geschichten auf der Plattform GuardianWitness zu präsentieren, und nutzt die so entstandene Community auch zur Verifikation von Inhalten. Auf diesem Weg lässt sich eine Bindung zum Publikum aufbauen, selbst wenn dieses Nachrichten nur noch via Instant Articles auf Facebook wahrnimmt. Kommentar-Funktionen haben ein ähnliches Ziel und sollen produktives Feedback auslösen. Derzeit haben Redaktionen allerdings täglich mit Tausenden unqualifizierten Einlassungen (»Lügenpresse«) oder gar Straftatbeständen wie Beleidigung oder Volksverhetzung zu kämpfen. Hostile Media ist zwar kein neues Phänomen, doch hatten erboste Leserbriefe früher kaum Folgen. Heute zeigt die Rezeptionsforschung, dass viele negative Kommentare bei Lesern zu einer eher negativen Bewertung eines Beitrags führen.

Die SZ geht mittlerweile einen anderen Weg. Kommentarspalten gibt es nicht mehr, stattdessen können täglich drei vorgegebene Themen in einem moderierten Forum diskutiert werden. »Wir Journalisten verweigern uns leider noch viel zu sehr, die dafür nötigen Verhaltensregeln zu formulieren«, sagt von Gehlen. Er glaubt, »auch vermeintliche Trolle halten sich an Regeln, wenn sie vorgegeben sind«. Seine Idee geht über die Netiquette hinaus. Einer Podiumsdiskussion gleich müssten die Rollen der Akteure definiert, der zeitliche Rahmen eingeschränkt und die Gesprächsleitung zielgerichtet sein.

Was in der Debatte um Publikumsbeteiligung und Hasskommentare unterzugehen droht, ist die Erkenntnis der Journalismusforschung, dass der Großteil des Publikums gar nicht mit Journalisten ins Gespräch kommen möchte. Am Hans-Bredow-Institut stellen die Forscher deshalb in Frage, ob so viel Aufwand für einen verhältnismäßig kleinen Teil des Publikums gerechtfertigt ist. Immerhin könnte sich ein besseres Verständnis der schweigenden Mehrheit irgendwann auch ökonomisch auszahlen. Etwa in der Frage, ob aufwändige Storytelling-Projekte (z.B. Snow Fall) überhaupt den Geschmack des Publikums treffen. 

Die Transformation des Journalismus ins digitale Zeitalter fordert Printmedien derzeit am stärksten heraus.
Doch auch Fernsehen und Hörfunk müssen mit neuen Formaten aufwarten, wenn schnelleres Internet mobiles  Video- und Audiostreaming massentauglich macht. Warum noch zeitbestimmt einschalten, wenn es Vergleichbares jederzeit im Internet gibt? Ob die Branche die Chancen des digitalen Wandels nutzen kann, wird sich zeigen. Prognosen darüber haben die Halbwertszeit von Tweets. Als Jeff Jarvis kürzlich in einem Interview gefragt wurde, wie er sich die Zukunft des Journalismus vorstelle, sagte er: »Ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung.«

Collagen unter Verwendung von Omni/photocase.de, i.stockphoto.com/Milos Malinic
 
Bild Malte Werner
Malte Werner ist gelernter Agenturjournalist und promoviert bei Prof. Dr. Volker Lilienthal an der Universität Hamburg über die Rolle von Social Media in der Syrien-Berichterstattung. Außerdem betreut er Website und Twitter-Kanal von Message Online.
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