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Wenn Journalisten ihre Berichterstattung in den virtuellen Raum verlagern, bringen sie das Publikum näher an ihre Geschichten heran als jemals zuvor. Das eröffnet neue Chancen, stellt die Medien aber auch vor Herausforderungen.
Text MALTE WERNER

Im Jahr 2014 war die Süddeutsche Zeitung (SZ) ihrer Zeit anscheinend einen Schritt voraus. Stefan Plöchinger, gerade zum Mitglied der SZ-Chefredaktion aufgestiegen und dort seither für digitale Projekte zuständig, schrieb damals im Blog über den Start einer neuen Reihe: „360° soll Ihnen komplizierte Themen so erschließen, wie Sie sie noch nicht gesehen haben. Wir recherchieren von allen Seiten, die wir wichtig finden, und erzählen so, dass Sie das ganze Bild bekommen.“ Die Rundumsicht war damals allerdings noch metaphorisch gemeint. Komplizierte Sachverhalte sollten aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden, um sie für den Leser verständlich aufzubereiten. An virtuelle Realität dachten die Verantwortlichen noch nicht. Das Potenzial dieser neuen Technologie wurde zu diesem frühen Zeitpunkt nur in Tech-Kreisen erkannt. So hatte Facebook kurz vor dem Start der SZ-Reihe angekündigt, das erfolgsversprechende Startup Oculus VR für zwei Milliarden US-Dollar zu übernehmen.

Der Einstieg in den echten 360°-Journalismus erfolgte bei der SZ erst knapp zwei Jahre später anlässlich einer Messe für Baumaschinen (Bauma), als im April 2016 ein interaktives 360°-Video im Internet gezeigt wurde. Bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro erlebte die neue Technologie dann ihren Durchbruch. Lutz Knappmann, stellvertretender Online-Chefredakteur und Leiter des Digital-Ressorts der SZ, sagte während der Medientage München im vergangenen Jahr: „Bei jedem Video lernen wir dazu, was man journalistisch aus dieser Technik machen kann.“ Genau das ist die zentrale Frage, mit der sich die Medien-Branche seitdem beschäftigt: Wie lässt sich Virtual Reality (VR) im Journalismus einsetzen?

KEINE PROGNOSEN IM SUPERLATIV

Auch wenn hier und da – wie so häufig in den vergangenen Jahren – hyperventilierend von einer „Revolution“ der Berichterstattung gesprochen wird, halten sich die meisten Akteure mit Prognosen im Superlativ noch zurück. Das liegt vor allem daran, dass der Journalismus bei der Entwicklung von VR – anders als die Spiele- oder Pornoindustrie – keine treibende Kraft ist und sich deshalb mit der Rolle des passiven Nutznießers begnügen muss. So schreibt das Tow Center for Digital Journalism an der New Yorker Columbia University in einer Studie über den Einsatz von VR im Journalismus: „Journalism is, and will remain, a minor cog in this emerging ecosystem.“

Nichtsdestotrotz kann der Journalismus von der neuen Technologie profitieren, da sind sich Experten einig. Die Frage ist nur: Wie? Unbestritten ist, dass mithilfe von VR ein neuer Grad von Nähe zwischen dem Publikum und dem Gegenstand der Berichterstattung erreicht werden kann. So wie es einst der Fotojournalismus Zeitungslesern ermöglichte, sich besser in eine beschriebene Szenerie hineinzuversetzen, versteht Lorenz Matzat, einer der Pioniere auf dem Gebiet des interaktiven Journalismus in Deutschland, VR folgerichtig als „Weiterentwicklung des klassischen Fernsehens“. Für den Zuschauer heißt das: mittendrin statt nur dabei.

Auch in der Studie des Tow Center heißt es, virtuelle Realität habe das Potenzial, dem Nutzer das Gefühl zu geben, tatsächlich „dabei“ zu sein. Auf diese Weise könne weitaus stärkere Empathie gegenüber dem Gegenstand der Berichterstattung entstehen als durch die klassischen journalistischen Vermittlungswege. Im englischsprachigen Raum hat sich deshalb der Begriff „immersive journalism“ etabliert. Die neue mediale Nähe versuchen journalistische Projekte auf zwei Arten zu erzeugen: entweder durch den Einsatz von 360°-Kameras oder durch „echte“, das heißt am Computer generierte und damit virtuelle Realität. Beide Konzepte haben ihre Vor- und Nachteile. Ist der Einsatz von entsprechender Kameratechnik mittlerweile verhältnismäßig unproblematisch, ist die Programmierung einer interaktiven, digitalen Umgebung ungleich aufwendiger und damit teurer.

vr-JOURNALISMUS ALS EMPATHIE-KATALYSATOR

Die große Mehrheit der VR-Projekte im Journalismus setzt derzeit auf das 360°-Video. Dessen Stärken sehen Experten vor allem in bildgewaltigen Geschichten. Nach Ansicht von Matthias Leitner, der beim Bayerischen Rundfunk (BR) das Storytelling-Entwicklungslabor story:first leitet und der bei BR_Next Programminnovationen entwickelt, müssen die Schauplätze dieser Geschichten „sprechende Räume“ sein, also Orte, „deren Eigenleben dazu einlädt, sich umzusehen, den Blick schweifen zu lassen“. Es klingt zynisch, aber das ausgebombte Aleppo ist so ein Ort. Bei Youtube findet sich das 360°-Video eines Rundganges durch die in Trümmern liegende Stadt. Der Zuschauer kann – als wäre er selbst vor Ort – sehen, wovon er in den Abendnachrichten höchstens Bildfetzen sieht: eine Geisterstadt, Ruinen so weit das Auge reicht.

Die Option, Menschen mitten in eine Geschichte zu transportieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, „mehr oder weniger hautnah dabei zu sein“, hält auch Knappmann für den größten Vorteil von VR. Ähnlich beklemmend wie der Rundgang durch Aleppo ist ein VR-Zweiteiler der SZ über die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer. „Man kennt die Bilder von den völlig überfüllten Schlauchbooten aus der Tagesschau“, sagt Knappmann. „Aber es ist etwas völlig anderes, wenn die Kamera wenige Meter daneben steht, wo junge Menschen versuchen, Bootsflüchtlinge zu retten, und der Zuschauer das quasi als Teil des Geschehens erleben kann.“

Und doch fehlt für ein hundertprozentig immersives Erlebnis die Möglichkeit, nicht nur die Blickrichtung zu bestimmen, sondern sich auch selbst durch den virtuellen Raum zu bewegen. Hier setzt computergenerierte VR an. Es ist mittlerweile technisch möglich, verblüffend echt wirkende virtuelle Welten zu erschaffen. Doch Aufwand und Kosten dafür sind (noch) immens. Bei weniger aufwendig produzierten Projekten besteht wiederum die Gefahr, dass die scheinbare Realität schon aufgrund schlechter Grafik nicht „echt“ wirkt. Dem britischen Guardian ist es mit dem Projekt 6x9 gelungen, einen Kompromiss zwischen hinreichender Interaktivität und ausreichender Optik zu finden, mit dem man dem Leben eines Gefängnisinsassen in Einzelhaft zumindest für einen Moment sehr nahe kommen kann.

Damit diese Nähe entstehen und VR zur „Empathie-Maschine“ werden kann, muss der Nutzer in die virtuelle Welt abtauchen können. Ohne Head-Mounted Display (HMD), also eine VR-Brille, verkommt das intensive Erlebnis zu einer Art Google Street View mit bewegten Bildern. Wohl auch deshalb verschickte die New York Times mehr als eine Million günstiger HMD-Exemplare aus Pappe an ihre Abonnenten. Schließlich zählt der erste Eindruck. Wen die erste virtuell erlebte Geschichte nicht fesselt, der klickt das nächste 360°-Video vielleicht gar nicht mehr an.

NEUE FORMEN DES STORYTELLINGS GESUCHT

Der Journalismus muss deshalb auch über neue Formen des Storytellings nachdenken. Klassische dramaturgische Werkzeuge aus dem Filmbereich wie schnelle Schnittfolgen mit verschiedenen Kameraeinstellungen fallen weg. „Die Bilder müssen hier länger stehen, damit sich die Nutzer orientieren können“, argumentiert Leitner. „Jeder Schnitt wirkt wie ein Fremdkörper, da dem Nutzer die Macht des eigenen Blickes entrissen wird.“ Außerdem führt die (noch) ungewohnte Rezeptionsform bei vielen Nutzern nach einiger Zeit – trotz begeisterter Rückmeldungen ob der Wirkung der neuen Technik – zu Erschöpfung oder gar Übelkeit. Umso wichtiger ist es, dass sich VR im ansonsten eher hektischen Nachrichtenangebot zu einem Hort der Entschleunigung entwickelt. Die New York Times etwa setzt das Format gezielt für Reportagen und Dokumentarfilme ein – also Genres, die in der Regel auf eine ruhige Bildsprache setzen. Allerdings darf Ruhe nicht in Langeweile umschlagen. Die aber droht, wenn es nicht gelingt, den Blick des Zuschauers so zu lenken, dass er im entscheidenden Moment des Films nicht in die völlig falsche Richtung schaut.

Bisher traf der Journalist die Auswahl, welcher (Bild-)Ausschnitt der Realität relevant ist. VR demokratisiert diese visuelle Informationsselektion, birgt aber zugleich die Gefahr, den Nutzer durch fehlende Fokussierung zu überfordern. Um dem entgegenzuwirken, experimentieren die Journalisten mit diversen Stilmitteln, zum Beispiel Geräuschen. „Dem Ton und der Dramaturgie der Klänge kommt eine wesentlich mächtigere Rolle zu“, erklärt Leitner. In Zukunft wird es darüber hinaus möglich sein, interaktive Elemente in die Videos zu integrieren, um beispielsweise den Fokus des Betrachters auf ein bestimmtes Bildobjekt zu lenken oder dort festzuhalten. „Sieht ein Nutzer das Gesicht eines Protagonisten etwas länger an, so ist es möglich, durch diesen Blick einen weiteren, vertiefenden Inhalt zu triggern, beispielsweise ein Interview mit dem Protagonisten“, sagt Leitner.

Eine der ersten, die VR journalistisch einsetzten und 360°-Videos mit der Interaktivität von virtueller Realität kombinierten, ist Nonny de la Peña. Bei ihrem Project Syria (2014) kombinierte die US-Amerikanerin beispielsweise reale Aufnahmen eines zufällig gefilmten Bombenangriffs in Aleppo mit den interaktiv erfahrbaren Folgen des Anschlags. Dafür baute sie mit ihrem Team die Straßenszene detailliert virtuell nach und wertete dafür zahlreiche Handyvideos vom Ort des Ereignisses aus. So kann der Nutzer, begleitet von Original-Audioaufnahmen, virtuell das Chaos und Entsetzen unmittelbar nach dem Bomben-Einschlag miterleben.

Szenen von vergleichbarer Intensität werfen sogleich ethische Fragen nach der Verantwortung der Journalisten auf. „Man muss sich fragen: Was kann ich meinen Zuschauern zumuten?“, warnt SZ-Redakteur Knappmann. Es bestehe die Gefahr, dass eine solche Erfahrung Nutzer emotional überfordere. Den Grund dafür erklärt BR-Experte Leitner: „360° und VR werfen die Nutzer direkt ins Geschehen. Allein durch die unmittelbare Positionierung im Raum mit einer Brille auf dem Kopf und Kopfhörern auf den Ohren kann sich der Nutzer kaum davon distanzieren.“ Viele Medien erklären ihren Zuschauern deshalb die neue Technik und ihre Wirkung, wenn sie ein neues VR-Projekt veröffentlichen. Und aus den Rückmeldungen der Rezipienten wird ersichtlich, dass die sich sehr wohl darüber im Klaren sind, dass es sich eben doch nur um eine „virtuelle“ Wirklichkeit handelt.

VR ALS CHANCE FÜR DOKU-FORMATE

Nicht nur ethische, auch andere Fragen rund um die journalistische Nutzung von VR harren derzeit noch einer Antwort. Darunter auch die nach dem besten Ausspielweg (externe Plattform oder eigene App?) sowie die Frage, wie sich mit VR Geld verdienen lässt. Angesichts zum Teil hoher VR-Produktionskosten ist der Aspekt der Refinanzierung alles andere als ein unwichtiger Gesichtspunkt für eine Branche, die in vielen Bereichen über sinkende Erlöse klagt. Trotz aller Unwägbarkeiten prophezeien die meisten Experten VR eine große Zukunft – zumindest in der Nische dokumentarischer Erzählformen. Für den Rest und damit den Großteil der journalistischen Berichterstattung ist der virtuelle Raum schlicht nicht geeignet. Deshalb wird VR das Portfolio journalistischer Erzählformen auch nur ergänzen und keine der klassischen Darstellungsformen ersetzen.

Ohnehin wird der Durchbruch von virtuell erfahrbarem Journalismus noch eine Weile auf sich warten lassen. „Damit VR und 360°-Videos im Journalismus wirklich ‚abheben‘, muss die Technik erst noch den nächsten Schritt gehen“, glaubt Leitner. Die Brillen seien noch zu teuer und technisch unausgereift. Sind die Kinderkrankheiten erst einmal abgestellt, hofft die Branche auf einen Massenmarkt für diese Endgeräte. Knappmanns Prognose lautet: „Das wird Alltag werden".



Grafiken: Photocase.de
 
Bild Malte Werner
Malte Werner ist gelernter Agenturjournalist und promoviert bei Prof. Dr. Volker Lilienthal an der Universität Hamburg über die Rolle von Social Media in der Syrien-Berichterstattung. Außerdem betreut er Website und Twitter-Kanal von Message Online.
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