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Tendenz

Das Magazin der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien

Ethik der Medien ist in digitaler Gesellschaft eine Ethik der User
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Ethik der Medien ist in digitaler Gesellschaft eine Ethik der User

Prof. Johanna Haberer zur Rolle der Medienethik in der neuen Plattformwelt

Jeder Informationskrieg ist das Ende jeglicher Medienethik, sagt die Theologin und Publizistin Prof. Johanna Haberer. In ihrem Fokus als Medienratsmitglied der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) stehen Medienbildung und Medienethik. Tendenz hat mit ihr über Desinformation, Algorithmen und die künftige Rolle der Medienkompetenz in der digitalen Plattformwelt gesprochen. 

Interview Bettina Pregel

  • Tendenz: Erst die Pandemie, nun der Krieg in der Ukraine – mittlerweile wird bereits von einem Informationskrieg im Netz, vor allem in sozialen Medien, gesprochen. Wie gut fühlen Sie sich in dieser Krisen- und Kriegssituation informiert? 

Johanna Haberer: Dass im Krieg das erste Opfer die Wahrheit ist und jeder Krieg eine Propagandamaschinerie, das ist nichts Neues. Auch dass die Berichterstattung unbefriedigend erscheint, weil Informationen nicht validiert werden können, kennen die Bundesdeutschen schon von den Golfkriegen und dem Krieg auf dem Balkan. Die strategische, propagandistische Emotionalisierung von einzelnen Teilen der Bevölkerung allerdings, die scheint durch die sozialen Netzwerke ganz deutlich unterstützt zu werden. Schon der Versuch, sich aus seriösen Nachrichtenquellen zu unterrichten, wird in den Echokammern der Verschwörungstheorien diskreditiert. Es ist den populistischen Kreisen in der Gesellschaft, die über ganz Europa vernetzt sind, in den vergangenen Jahren schon teilweise gelungen, das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der herkömmlichen Medien zu erschüttern. Das ist eine schlechte Nachricht für die Demokratie. Wir haben aber immer noch ausgezeichnete Glaubwürdigkeitsadressen in der Medienlandschaft. Die gilt es zu pflegen.

Nach der Wahrheit wird nicht mehr gefragt

  • Was bedeutet aus medienethischer Perspektive der Begriff Informationskrieg? Und inwiefern wird er durch den digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit erleichtert?

Der digitale Strukturwandel fördert die Gruppenbildung im Netz, die Empörungskultur und die Verschwörungstheorien. Jeder Informationskrieg – auch der, den wir derzeit erleben – ist das Ende jeglicher Medienethik. Es wird nicht mehr nach Wahrheit oder den unterschiedlichen Perspektiven auf ein Ereignis gefragt. Oder gar nach der journalistischen Loyalität zu den Bürgerinnen und Bürgern bzw. dem Medienpublikum. Es wird schon gar nicht nach dem Gemeinwohl der Gesellschaft gefragt, sondern die Botschaften der Kriegstreibenden werden propagandistisch vermittelt. Man kann das schon erkennen, wenn eine bestimmte Sprache und bestimmte Worte (z.B. „Spezialoperation“ statt Krieg) gefordert werden und bei Nichtbeachtung journalistisch Tätige eingesperrt werden. Ich kenne junge Kolleginnen und Kollegen, die in Berlin bei Russia Today gearbeitet und Ende Februar fristlos gekündigt haben, weil sie gegen ihren Willen zu einer bestimmten Berichterstattung und Wortwahl gezwungen werden sollten.

  • Als Mitverantwortliche für diese Entwicklung werden Medienintermediäre wie Facebook oder YouTube kritisiert, weil sich Desinformation, Verschwörungsmythen und Hate Speech dort rasend schnell verbreiten. Wie können Gesellschaft und Medienregulierung dieser Entwicklung am wirksamsten gegensteuern?

Zum einen ist hier in Deutschland bereits der Medienstaatsvertrag als Regulierungsinstrument wirksam. Außerdem ist es sehr ermutigend, dass gerade in den vergangenen Wochen bei der Europäischen Union eine ganze Reihe von Gesetzen zur Eingrenzung willkürlicher und monopolistischer Meinungsmacht der Intermediäre auf den Weg gebracht wurden. Vor allem, dass die amerikanischen Plattformen sich nun nicht mehr hinter ihren Funktionalitäten verstecken können, sondern Verantwortung für die Inhalte und ihre Kuratierung zugeschrieben bekommen, lässt mich hoffen. Wir sind offenbar in der Lage, auch diese Auswüchse von Meinungsmanipulation durch algorithmische Systeme, die Meinungen verstärken, vernünftig und gesetzlich zu regeln.

Konstruktiver gesellschaftlicher Dialog muss möglich sein

  • Stichwort „Hate Speech“: Was treibt aus Ihrer Sicht den Hass im Netz voran?

Der Diskurs in einer Demokratie lebt vom Austausch der Argumente und von der Vielfalt der Perspektiven und der Möglichkeit, viele Blickwinkel zur Sprache zu bringen. Er lebt von einem streitbaren, aber argumentativen Ton, der die Sache debattiert sowie Sache und Person zu unterscheiden weiß.
Die uralte Erfahrung, dass wer keine Argumente mehr hat, persönlich wird, bewahrheitet sich auch in diesen Kommunikationsformen. Dabei kann die Effektivität der digitalen Kommunikation hier wohl ein Motor von Hass sein, denn die Geschwindigkeit von Aktion und Reaktion verhindert oft den so wichtigen Reflexionsprozess. So mancher aggressive Tweet wäre dann vielleicht nicht entstanden.
Wenn die Mehrheit der Diskursbeteiligten nicht mehr zwischen einer Sachdiskussion und persönlichen Übergriffen unterscheiden kann, dann ist ein konstruktiver gesellschaftlicher Dialog nicht mehr möglich.

Seriöse Recherche ist so wichtig wie sauberes Wasser

  • Fakten von Meinung zu unterscheiden – eine Grundregel im Journalismus – ist so relevant wie nie. Die Landesmedienanstalten haben laut Medienstaatsvertrag die Aufgabe, die journalistische Sorgfaltspflicht in Online-Medien zu überprüfen. Wie wichtig ist diese Aufgabe für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft?

Ich bin sehr froh über diese neue Aufgabe der Kontrolle für die Medienanstalten, die der Medienstaatsvertrag eröffnet. Das wird eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe, die man am besten gemeinsam mit den Onlinemedien angeht und diese zur Selbstkontrolle ermutigt.
Die demokratischen Ordnungen beruhen auf der offenen Meinungsbildung der mündigen Bürgerinnen und Bürger. Um sich eine valide Meinung bilden zu können – die ja dann auch Grundlage des Handelns ist – benötigen sie eine seriöse Faktengrundlage. Die journalistische Sorgfaltspflicht ist Voraussetzung für eine solche Meinungsbildung.
Seriöse Recherche, kenntnisreiche Einordnung, kluge Hintergrundinformation und Transparenz über den Weg, der die Redaktion zu ihren Fragen und Antworten geführt hat, ist für eine Demokratie ebenso wichtig wie sauberes Wasser für die Menschengesellschaft. Ist die Informationslage kontaminiert, wird auch die Meinungsbildung in eine Schieflage kommen.

Medienkompetenz in allen lebenslangen Bildungsprozessen

  • Um Fakten und deren Manipulation als solche erkennen zu können, braucht es Medien- und Informationskompetenz. Wie steht es Ihrer Einschätzung nach um die Informationskompetenz der Mediennutzerinnen und -nutzer?

Man kann konstatieren, dass unter den Nachdenklicheren die Möglichkeiten der Manipulation in der digitalen Kommunikationsgesellschaft stärker erkannt werden. Das kann man daran erkennen, dass in ernsten Zeiten – wie z.B. in den Jahren der Pandemie oder jetzt des Krieges in der Ukraine – viele Mediennutzende wieder zu den journalistischen Glaubwürdigkeitsadressen zurückgekehrt sind. Dennoch besteht das Desiderat, dass Medienkompetenz in allen lebenslangen Bildungsprozessen künftig eine wesentlich größere Rolle spielen müsste. Die sich ständig wandelnde technische Entwicklung bedarf einer nachhaltigen Begleitung in der Schulbildung, aber auch in den betrieblichen Weiterbildungen. Bisher endet die Befassung mit der Kommunikationsgesellschaft meist in der pragmatischen Aneignung des Umgangs. Die Reflexion und die Frage, was für Folgen hat meine Kommunikation, wie gehe ich mit Geschwindigkeit und Informationsüberforderung um oder welchen moralischen Regeln folge ich, ist meiner Meinung nach unterbelichtet.

  • Welche Rolle können in diesem Zusammenhang die Medienanstalten übernehmen?

Die BLM zum Beispiel hat sich seit dem Beginn ihrer Arbeit immer um Medienbildung und Aufklärung bemüht. Sie hat dabei vorbildhaft mit ihrer Stiftung für Medienpädagogik Bayern päda­gogische Fachkräfte und andere Zielgruppen erreicht. Diese Arbeit muss auch künftig eine hohe Aufmerksamkeit bekommen. Für diese gemeinwohlorientierte Arbeit sollten die Medienanstalten breite Bündnisse auch mit anderen Medienanbietern und -Schaffenden schließen. Dabei sollten sie sich auf ausreichend öffentliche Zuschüsse verlassen können. Denn Medienkompetenz und Medienbildung wird in Zukunft nicht mehr nur das Terrain von Medienschaffenden und journalistisch Tätigen sein: Wir alle sind Medienschaffende, die eine gesellschafts- und gemeinschaftsdienliche persönliche Ethik entwickeln müssen. Insofern wird in der digitalen Gesellschaft die Ethik der Medien eine Ethik der User sein.

Warum unsere Demokratie auch von Algorithmen abhängt

  • Die manipulative Wirkung algorithmischer Vorschlagssysteme hat einen großen Einfluss auf die Meinungsbildung, sagen kritische Stimmen. Wie bewerten Sie die These, dass dadurch Radikalisierungseffekte oder gar eine Gesellschaftsspaltung entstehen kann? 

Ich denke, dass die Beobachtung der algorithmischen Dynamiken, die aus ökonomischen Gründen ausschließlich am Interesse der Nutzer orientiert sind und deren Meinung zementieren, über das Stadium einer These hinaus ist. Algorithmische Systeme versuchen, so wie viele im Augenblick programmiert sind, die User mit dem zu bedienen, was ihnen „gefällt“ oder sie auf einer bestimmten Seite hält. Auf diese Weise entstehen Bestätigungsdynamiken, die bestimmte Meinungen verfestigen und hermetisieren – eben auch radikale. Emotionalisierung, Empörung, Radikalisierung, das sind die Stichworte, die eine vorurteilsbeladene Segmentierung der Gesellschaft fördern.
Ich denke, dass durch ein anderes Design algorithmischer Systeme auch gemeinwohlfördernde Dynamiken entstehen könnten. Algorithmen sind ja nicht vom Himmel gefallen, sondern nach bestimmten Regeln von Menschen programmiert. Diese rein am Profit orientierten Regeln können geändert werden – und auch Algorithmen können kontrolliert werden.

  • Können Algorithmen moralisch handeln oder demokratisch „programmiert“ werden?

Menschen handeln moralisch oder unmoralisch, Algorithmen sind Programme. Ich denke, es wird kaum möglich sein, sie demokratisch zu programmieren. Aber man könnte bei Facebook oder Twitter eine weitere Informationssäule einführen, die für eine valide Faktenbasis sorgt. Ich glaube auch: Die Programmierung von Algorithmen sollte so transparent sein, dass die Bürgerinnen und Bürger die Folgen ihrer Kommunikation abschätzen können.

  • Daten- und Überwachungsskandale sowie die Diskussion über Fake News und Hate Speech haben dazu geführt, dass in der öffentlichen Debatte meist die Gefahren der digitalen Plattformen im Fokus stehen. Worin liegen aus medienethischer Sicht die Chancen des digitalen Strukturwandels?


Die Digitalisierung beruht auf einer federleichten, blitzschnellen Technik der Datenübertragung. Noch nie war es uns – sei es in der politischen Meinungsbildung oder auch in der Wissenschaft – so schnell möglich, an Informationen zu kommen. Ja, auch an valide. Noch nie waren wir so umfassend informiert wie heute oder fühlten uns so umfassend informiert. Noch nie konnten wir an der Entwicklung unseres Stadtteils, unserer Kommune, unseres Landes so umfassend teilnehmen wie heute.
​​​​​​​Ich bin guten Mutes, dass es uns in Bayern, Deutschland und Europa gelingen wird, Regeln für die digitale Kommunikationsgesellschaft durchzusetzen und Algorithmen zu kontrollieren. Dann werden wir diese wunderbare Technologie wieder so bewundern können, wie es ihr zusteht. 


Johanna Haberer ist seit 2001 Professorin für Christliche Publizistik an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, von 2008 bis 2012 war sie deren Vizepräsidentin. Sie ist dort Geschäftsführerin des Instituts für Praktische Theologie und für den Masterstudiengang Medien – Ethik – Religion verantwortlich. Zuvor arbeitete die Theologin und Publizistin im Evangelischen Presseverband Bayern, als Chefredakteurin des „Sonntagsblattes – Evangelische Wochenzeitung für Bayern“ und als Rundfunkbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Prof. Haberer gehört als Vertreterin der Evangelischen Kirche seit vielen Jahren dem Medienrat der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) an. Außerdem ist sie stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums der Hochschule für Philosophie München.

Bild Bettina Pregel
Bettina Pregel ist stellvertretende Bereichsleiterinn im Bereich Technik, Medienwirtschaft und Öffentlichkeitsarbeit in der BLM. Die gelernte Redakteurin und Pressereferentin arbeitetete zuvor bei Tageszeitungen und Fachzeitschriften.
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