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Größte Innovation seit Einführung der
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Größte Innovation seit Einführung der Schulpflicht

Künstliche Intelligenz (KI) hat das Potenzial, das Bildungssystem nachhaltiger zu verändern als jede andere Innovation seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht, sagt der Lehrer und Forscher Florian Nuxoll. Von generativen KI-Systemen wie ChatGPT werden seiner Ansicht nach Lehrende und Lernende profitieren. Ihr Einsatz könnte aber auch das Lernen verhindern.
 

Text: Florian Nuxoll


Eine Künstliche Intelligenz (KI), die schriftliche Abiturprüfungen in Bayern besteht. Unglaublich? Im Mai 2023 hat das AI & Automation-Lab des Bayerischen Rundfunks (BR) genau das ge-testet. ChatGPT, ein von OpenAI entwickeltes KI-Modell, bestand die Prüfungen in verschiedenen Fächern, darunter Deutsch, Mathematik und Geschichte, mit Noten, die denen eines Schülers mit einer Gesamtnote „gut“ entsprachen.

Dieses überraschende Ergebnis deutet auf die transformative Kraft der Künstlichen Intelligenz im Bildungsbereich hin. KI kann das Bildungssystem effizienter, flexibler und personalisierter gestalten. Aber nicht nur Lernende profitieren von diesen Möglichkeiten. Auch für Lehrkräfte kann sie ein effektives Werkzeug sein. Sie kann dazu beitragen, den Arbeitsaufwand erheblich zu reduzieren, indem sie bei der Erstellung von Musterlösungen, bei der Analyse der Lernfortschritte und der Übernahme bestimmter administrativer Aufgaben hilft. Dies führt dazu, dass mehr Zeit für die direkte Interaktion mit den Schülern und Schülerinnen bleibt, was letztlich den Lernprozess weiter verbessert.


Wie sich generative KI-Systeme und intelligente Tutorsysteme unterscheiden


Wenn man von KI im Bildungsbereich spricht, ist es wichtig, zwischen generativen KI-Systemen und intelligenten Tutorsystemen (ITS) zu unterscheiden. Generative KI-Systeme wie ChatGPT sind darauf trainiert, menschenähnliche Texte zu erzeugen. Sie sind in der Lage, eine Reihe von Aufgaben zu erfüllen: von der Beantwortung einfacher Fragen bis zur Erstellung komplexer Essays. Und sie können sogar scheinbar kreativen Input liefern und auf unerwartete Fragen oder Probleme reagieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie über ein tiefgreifendes Verständnis des Lerninhalts verfügen oder in der Lage sind, die individuellen Lernbedürfnisse zu erkennen und darauf einzugehen.

Intelligente Tutorensysteme (ITS) hingegen sind darauf ausgelegt, den Lernprozess zu personalisieren und zu optimieren. Sie sind in der Lage, den Lernfortschritt eines Lernenden zu überwachen, Schwächen zu erkennen und gezielte Übungen oder Erklärungen anzubieten, um diese Lücken zu schließen. Sie können auch adaptive Lernpfade erstellen, d.h. Lernwege, die individuell an den Fortschritt und die Bedürfnisse eines Schülers angepasst sind. Auf diese Weise ist ein wirklich differenzierter Unterricht möglich.

Beide Arten von KI-Systemen können wertvolle Werkzeuge in der Bildung sein. Aber sie haben unterschiedliche Stärken, Schwächen und ideale Einsatzbereiche. Es ist wichtig, diese Unterschiede zu verstehen, um ihr Potenzial im Bildungssystem voll auszuschöpfen.



„Be a learner not a finisher!“


Textgenerierende KI-Systeme wie ChatGPT können zweifellos als Lernhilfe dienen, wenn z.B. ein Schüler vor der Aufgabe steht, eine Erörterung zu schreiben. Er könnte sich an ChatGPT wenden und fragen, wie eine Erörterung aufgebaut sein sollte oder welche Argumente für oder gegen eine bestimmte These sprechen. Auf diese Weise fungiert die KI als interaktiver Leitfaden, der die Lernenden bei der Entwicklung einer überzeugenden Argumentation unterstützt und sogar (meist korrekte) Fakten liefern kann, um seine Argumente zu untermauern.

Auf diese Weise kann KI beim Lernen helfen. Es ist aber auch möglich, dass KI das eigenständige Lernen und das kritische Denken untergräbt. Wenn z.B. ein Schüler ChatGPT bittet, den ganzen Aufsatz zu schreiben und ihn dann abgibt, wird Lernen verhindert. Daher ist es wichtig, dass Lehrer den Sinn hinter den Aufgaben erklären. Den Schülern muss vermittelt werden, dass es nicht in erster Linie um das fertige Produkt geht, sondern um den Lernprozess auf dem Weg dorthin.

Das Motto "Be a learner not a finisher!", das in einigen amerikanischen Klassenzimmern an der Wand hängt, veranschaulicht diese Schlüsselbotschaft sehr gut. Dieser Ansatz stellt das Lernen und Verstehen von Konzepten über das Endprodukt und das schnelle Abarbeiten von Aufgaben. In Bezug auf KI bedeutet dies, dass Schüler ermutigt werden sollten, KI als ein Werkzeug zu sehen, das ihnen hilft, Konzepte zu verstehen und ihre Fähigkeiten zu verbessern, und nicht nur als eine Möglichkeit, Aufgaben schneller zu erledigen. Es liegt in der Verantwortung der Bildungseinrichtungen und der Lehrkräfte, die notwendigen Anleitungen zu geben, um sicherzustellen, dass KI in dieser Weise eingesetzt wird.



Neue Anforderungen an Lehrkräfte und Lernende


Für Lehrkräfte eröffnen KI-Tools wie ChatGPT neue Möglichkeiten. Ein Beispiel ist die Erstellung von Textaufgaben für den Mathematikunterricht. Mithilfe von KI können ohne großen Mehraufwand maßgeschneiderte Aufgaben zu verschiedenen Themen erstellt werden. So rechnen alle Schülerinnen und Schüler mit den gleichen Zahlen, aber die Kontexte und Inhalte der Aufgaben werden an die Interessen jedes Einzelnen angepasst. Generell können Übungsaufgaben, z.B. für den Englischunterricht, auf diese Weise wesentlich schneller erstellt werden.

Wichtig zu betonen ist, dass die Arbeit mit generativer KI in der Regel eine Ko-Konstruktion erfordert. Das bedeutet, dass Lehrkräfte mit einer KI hybride Teams bilden, in denen sie jedoch die Kontrolle und die letztendliche Verantwortung für die Lernmaterialien behalten, die sie ihren Schülerinnen und Schülern zur Verfügung stellen. In diesem Sinne eröffnet KI nicht nur neue Möglichkeiten für den Unterricht, sondern stellt auch neue Anforderungen an die Kompetenzen der Lehrkräfte, gerade im Bereich der digitalen Bildung. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie bei der Nutzung und Bewertung von KI-Werkzeugen angemessen geschult und unterstützt werden.

Genauso wie Lehrkräfte lernen müssen, die Ergebnisse generativer KI kritisch zu hinterfragen, müssen auch Schüler diese Kompetenz entwickeln und verlässliches Wissen erwerben. Das Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach: "Wer nichts weiß, muss alles glauben", gilt auch hier.



KI wird die Produktion von Fake News erleichtern


KI wird die Art und Weise, wie wir Informationen erstellen und konsumieren, drastisch verändern und leider auch die Produktion von Fake News erleichtern – seien es gefälschte Texte, Tonaufnahmen, Bilder oder Videos. Solche Desinformationswerkzeuge können nicht nur den Einzelnen verunsichern, sondern auch das gesellschaftliche Vertrauen untergraben und die demokratische Ordnung stören.

KI darf daher nicht nur als Werkzeug im Unterricht eingesetzt werden, sondern muss selbst zum Unterrichtsthema werden. Schüler sollten verstehen, was gefälscht werden kann, wer ein Interesse daran hat, Fake News zu verbreiten, und welchen Einfluss Desinformation auf unsere Gesellschaft hat.

Indem wir KI nicht nur als Werkzeug, sondern auch als Thema in den Unterricht integrieren, stellen wir sicher, dass unsere Schüler nicht „alles glauben müssen“, sondern in die Lage versetzt werden, Informationen kritisch zu hinterfragen und zu bewerten. So werden sie zu digitalen Bürgern, die die Technologien nicht nur nutzen, sondern auch hinterfragen, verstehen und verantwortungsvoll einsetzen können. Medienpädagogische Maßnahmen sollten darauf abzielen, das Bewusstsein für die Risiken der KI-Nutzung zu schärfen. Dies umfasst die Erkennung von Verzerrungen in KI-Systemen, das Verständnis für die mögliche Manipulation durch generierte Inhalte und die Fähigkeit, den Unterschied zwischen maschinengeneriertem und menschlichem Wissen zu erkennen.


Medienkompetenz: Technologien auch hinterfragen


Die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz für die Bildung sind nahezu unbegrenzt. KI hat das Potenzial, den Lernenden die bestmögliche Unterstützung zu bieten und gleichzeitig die Lehrkräfte zu entlasten.

Jetzt ist es an der Zeit, dass die Bildungsakteure diese Technologien ausprobieren, bewerten und verbessern. Es muss Raum für Experimente und Innovationen geben, um herauszufinden, wie KI am besten in den Unterricht integriert werden kann. Um den Lernprozess zu optimieren, ohne den Menschen aus dem Mittelpunkt zu verdrängen.

Denn trotz aller technologischen Fortschritte sollte es nicht das Hauptziel der Bildung sein, Schülerinnen und Schüler vor Bildschirmen zu isolieren, damit sie autonom Aufgaben erledigen. Vielmehr muss das gemeinsame Lernen und die soziale Interaktion im Vordergrund stehen. Dies lässt sich mit einem Orchester vergleichen: Die einzelnen Musiker üben und perfektionieren ihr Instrument für sich, das Ziel ist jedoch das gemeinsame Musizieren. So sollten auch unsere Schulen Orte des gemeinsamen Lernens und des sozialen Miteinanders bleiben, auch wenn einzelne Aspekte des Lernprozesses mit Hilfe von KI individualisiert und optimiert werden können.


Das Beste aus beiden Welten nutzen


Die Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz haben eine atemberaubende Geschwindigkeit. Die Fortschritte sind so rasant, dass man kaum vorhersagen kann, was in einigen Monaten möglich sein wird. Wie schnell sich KI-Werkzeuge verbessern, zeigt auch das eingangs erwähnte Experiment des AI & Automation Lab des Bayerischen Rundfunks. Denn das Experiment im Mai, bei dem ChatGPT die Abiturprüfung mit einer guten Note bestanden hätte, war bereits der zweite Versuch. Noch Anfang dieses Jahres, mit der Version GPT 3.5, wäre ChatGPT durch das Abi gefallen. Die Texte entsprachen damals der Note ungenügend.

Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, das Lernen zu revolutionieren und unsere Bildungslandschaft maßgeblich zu verändern. Doch während wir diesen Weg des technologischen Fortschritts weiter beschreiten, müssen wir uns stets vor Augen halten, dass die Auswirkungen auf die menschliche Interaktion, die Entwicklung des kritischen Denkens und die Gestaltung des sozialen Lernens von größter Bedeutung sind.

Wenn wir uns dieser Herausforderungen bewusst sind und sie proaktiv angehen, werden wir eine Balance finden, die es uns ermöglicht, das Beste aus beiden Welten zu nutzen: die bemerkenswerten Fähigkeiten der KI und die unersetzliche menschliche Fähigkeit zu lehren, zu lernen und zu interagieren.

Artwork: rosepistola.de
 

Bild Florian Nuxoll
Florian Nuxoll unterrichtet an der GeschwisterScholl-Schule in Tübingen Englisch und Politik. Seit 2017 ist er teilabgeordnet an die Computerlinguistik der Universität Tübingen. Er betreibt seit 2021 den Podcast „Doppelstunde“ zum Thema Schule und Digitalisierung.
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