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Fernsehen ohne Grenzen?
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Fernsehen ohne Grenzen?

Die EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD) benötigt nach zehn Jahren eine „Generalüberholung“. Die EU-Kommission hat bereits einen Vorschlag erarbeitet. Jetzt ist das Europäische Parlament am Zug. Das medienpolitische Tauziehen soll im kommenden Jahr entschieden werden.

Text Matthias Kurp, Illustrationen Maria Fischer

„Fernsehen ohne Grenzen – Grünbuch über die Errichtung des Gemeinsamen Marktes für den Rundfunk, insbesondere über Satellit und Kabel“ lautete 1984 der sperrige Titel der ersten medialen Euro-Vision der EG-Kommission. Ziel war die Freiheit des Angebots und des Empfangs von Fernsehen über die Grenzen der EG-Mitgliedstaaten hinweg. Mit dem Grünbuch begann zugleich die Suche nach einer rechtlichen Angleichung nationaler Rundfunkordnungen, um eine Art Rundfunkbinnenmarkt zu schaffen, der zugleich eine europäische Integrationsfunktion erfüllen sollte.

Waren die Diskussionen über ein „Medieneuropa“ im Europäischen Parlament und auch in der EG-Kommission anfangs noch stark von kulturellen Aspekten geprägt, änderte sich dies spätestens, als der Europarat am 3. Oktober 1989 die Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ verabschiedete. Innerhalb des Binnenmarkt-Konzeptes wurde damals das Kulturgut Rundfunk dem Wirtschaftsrecht untergeordnet, weil Fernsehprogramme – so hatte bereits 1974 der Europäische Gerichtshof geurteilt – vor allem als (wirtschaftliche) Dienstleistungen einzustufen seien. Damit löste sich für die europäische Medienpolitik zugleich das Dilemma, dass die EG-Gremien über keinerlei Rundfunkkompetenz verfügten. Aus dem Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (Art. 59 ff. EWGV) schloss die EG-Kommission eine Subsumption des Rundfunks unter die Dienstleistungsfreiheit, die bis heute die europäische Medienpolitik prägt. Letztlich war das Konfliktpotenzial, das kulturpolitisch aus sehr unterschiedlichen Rundfunkmodellen der EG-Mitgliedstaaten resultierte, durch eine Interpretation des Kulturgutes Rundfunk als Wirtschaftsgut minimiert worden.

KOMMUNIKATION UND KOMPROMISS

1997 wurde die EG-Fernsehrichtlinie erstmals novelliert und 2007 schließlich von der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD) abgelöst: Wieder musste ein Kompromiss gefunden werden, diesmal aufgrund der zunehmenden Digitalisierung, weil audiovisuelle Online-Angebote die Grenzen des klassischen Rundfunkbegriffs zunehmend unschärfer machten. Die AVMD-Richtlinie löste das Dilemma mit folgender Formel: Als Rundfunk gilt seitdem, was linear übertragen wird, während non-lineare Inhalte wie etwa Videoabrufdienste (Video on Demand) weniger streng reguliert werden müssen. Doch das technisch-formale Kriterium sagt nichts über die Relevanz der einzelnen Inhalte für die Meinungsbildung aus. Schließlich können non-linear verbreitete YouTube-Inhalte klassische Rundfunkprogramme in Sachen Suggestivkraft, Breitenwirkung und Wirkungspotenzial durchaus übertreffen.

Fast zehn Jahre nach Inkrafttreten der ersten AVMD-Richtlinie scheint deshalb eine Reform überfällig, bei der die Regulierungsintensität nicht von der Übertragungsform, sondern vom Einfluss einzelner Angebote auf die Meinungsbildung abhängig ist. So hatten auch Bund und Länder im Konsultationsverfahren für die Novellierung der AVMD-Richtlinie argumentiert: Eine Unterscheidung zwischen linearen und nicht-linearen Diensten sei nicht mehr zeitgemäß und widerspreche der Technologieneutralität. Die deutschen Ministerpräsidenten der Bundesländer schlugen deshalb eine abgestufte und inhaltebezogene Regulierung vor.

Was zunächst plausibel klingt, schafft bei der Umsetzung indes Unwägbarkeiten: Kriterien wie Suggestivkraft und Breitenwirkung sind nämlich unscharfe Rechtsbegriffe, die darüber hinaus – je nach Medienkultur und -system – in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich interpretiert werden. Deshalb hält die EU-Kommission in ihrem am 25. Mai vorgelegten Entwurf für eine Überarbeitung der AVMD-Richtlinie am alten Prinzip fest. Prompt kritisierten Mitte Juni die deutschen Ministerpräsidenten, die im Rahmen der Kulturhoheit der Länder für die Medienpolitik zuständig sind, dass der Konvergenz der Medientechnologien und Medienmärkte „nicht Rechnung getragen“ werde.

In einigen Bereichen indes signalisierte die EU-Kommission mit ihrem Entwurf zur Novelle der AVMD-Richtlinie größere Bereitschaft, den alten Rechtsrahmen zu reformieren. Um dem klassischen Rundfunk im Wettbewerb mit den weitgehend unregulierten Streaming- und Video-on-Demand-Angeboten Chancengleichheit zu ermöglichen, sieht der Richtlinienentwurf beispielsweise eine Liberalisierung der Regeln für TV-Werbung vor. Statt bislang maximal zwanzig Prozent Werbung pro Stunde sollen TV-Programmanbieter künftig unbegrenzt Werbespots ausstrahlen dürfen, solange zwischen 7 und 23 Uhr der Werbeanteil insgesamt nicht mehr als zwanzig Prozent beträgt. Außerdem sollen bezahlte Produktplatzierungen (Product Placement) künftig, falls sie gekennzeichnet sind und nicht die redaktionelle Unabhängigkeit gefährden, bei fast allen TV-Programmen und Online-Plattformen zulässig sein. Ausgenommen seien lediglich „Nachrichtensendungen und Sendungen zur politischen Information, Verbrauchersendungen, Sendungen religiösen Inhalts und Sendungen mit beträchtlicher kindlicher Zuschauerschaft“, heißt es im Richtlinienentwurf. Produktplatzierungen für Zigaretten, Tabakwaren und Arzneimittel sollen allerdings verboten bleiben.

Durch die Liberalisierung der Regeln für TV-Werbung könnten RTL, Sat.1 & Co. in der lukrativen Primetime mehr Werbung ausstrahlen und höhere Erlöse erzielen. Außerdem sollen Filme und sogar Nachrichtensendungen bereits nach zwanzig statt bislang dreißig Minuten unterbrochen werden dürfen. Ist die Werbung pro Stunde bislang auf zwölf Minuten begrenzt, soll künftig der Wettbewerb regeln, wie viele Werbespots das Publikum akzeptiert. Bedeutet Fernsehen ohne Grenzen also demnächst auch Werbung ohne Grenzen? Petra Kammerevert (SPD) und Sabine Verheyen (CDU), die im Kultur- und Medienausschuss des Europäischen Parlaments für die Reform der AVMD-Richtlinie federführend sind, haben vorgeschlagen, dass in der Primetime zwischen 20 und 23 Uhr der Anteil von Werbung zwanzig Prozent der Sendezeit, also insgesamt 36 Minuten binnen drei Stunden, nicht überschreiten darf.

Die Regulierung der Werbung ist nicht der einzige Punkt, bei denen EU-Kommission und Europäisches Parlament in den kommenden Monaten angesichts divergierender Konzepte Lösungen finden müssen. Bereits im Dezember soll der Kultur- und Medienausschuss seine endgültigen Empfehlungen für das Parlament abgeben. Mit einem Beschluss des Parlaments wird für Anfang kommenden Jahres gerechnet. Anschließend könnte das sogenannte Trilog-Verfahren zwischen der Europäischen Kommission, dem Rat der Europäischen Union als Vertretung der Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament beginnen. Sind die Trilog-Verhandlungen Mitte 2017 abgeschlossen, wäre eine Verabschiedung des neuen AVMD-Richtlinientextes im Parlament noch vor der Sommerpause möglich. Anschließend soll der novellierte Regelungsrahmen binnen eines Jahres von den EU-Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden.

TAUZIEHEN UM GESTALTUNGSMACHT

Bis zum Inkrafttreten der neuen AVMD-Richtlinie aber muss noch vieles ausgehandelt werden. Auf wenig Gegenliebe stößt etwa bei den deutschen Ministerpräsidenten, dass die EU-Kommission für die Medienaufsicht und -kontrolle Regulierungsinstitutionen vorschlägt, die als juristische Personen von Medien und Politik unabhängig sein sollen. Zusätzlich will die EU-Kommission die von ihr eingerichtete European Regulators Group for Audiovisual Media Services (ERGA) aufwerten und ihr eine eigene Rechtspersönlichkeit zusprechen. Solche Vorhaben gehen den Ministerpräsidenten der Bundesländer zu weit. Kritik kommt auch aus den Reihen des Kultur- und Medienausschusses des EU-Parlaments. „Wir glauben eher, dass eine mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattete ERGA ein Demokratiedefizit darstellt und zudem die mitgliedstaatlichen Kompetenzen bei der Ausgestaltung der Medienordnung aushöhlt“, warnt Petra Kammerevert vor einer zu starken Rolle Brüssels. Ähnlich äußerten sich am 8. Juli auch der Ausschuss für Fragen der Europäischen Union und der Wirtschaftsausschuss des deutschen Bundesrates.

Kritiker fürchten, dass über die Aufwertung der ERGA die Kompetenz der einzelnen EU-Mitgliedstaaten ausgehebelt werden könnte, eigene Vorschriften zur Ausgestaltung der Medienaufsicht zu verabschieden. Der Vorschlag von Petra Kammerevert und Sabine Verheyen sieht vor, dass Entscheidungen mit medienpolitischer Relevanz künftig im sogenannten Kontaktausschuss verhandelt werden. Die beiden zuständigen Berichterstatterinnen des Kultur- und Medienausschusses sind der Ansicht, dass dieses Gremium seine Entscheidungsbefugnisse besser „aus der legitimierten Gestaltungsmacht der Mitgliedstaaten ableiten“ kann. Der Kontaktausschuss, dessen Vorsitz die EU-Kommission innehat, besteht aus Vertretern der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. Das Gremium wurde eingerichtet, um die Umsetzung der AVMD-Richtlinie zu begleiten.

"Mediendienste sind gleichermassen Kultur- und Wirtschaftsdienste.  Ihre Immer Grössere Bedeutung für Gesellschaften, die Demokratie, (...) die Bildung und die Kultur rechtfertigt die Anwendung besonderer Vorschriften auf diese Dienste" -  AVMD-Richtlinie

Sollte der Entwurf der EU-Kommission für die AVMD-Richtlinie Wirklichkeit werden, so wird in den Reihen der deutschen Ministerpräsidenten befürchtet, könnte auch die Selbstkontrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch Fernseh- bzw. Rundfunkräte ins Wanken geraten. Müssten nämlich die Aufsichtsinstanzen von ARD oder ZDF „als separate juristische Personen“ eingerichtet werden, passt dies kaum zur anstaltsinternen Gremienkontrolle, wie sie Fernseh- und Rundfunkräte bei ARD, ZDF und Deutschlandfunk derzeit ausüben. Kein Wunder also, dass die Vertreter der Bundesländer über den Bundesrat und den EU-Rat auf den Entscheidungsprozess Einfluss nehmen wollen, um den Status-quo der deutschen Rundfunkordnung zu erhalten. Bayern, das in den Reihen der Bundesländer für Stellungnahmen im Reformprozess für die AVMD-Richtlinie die Federführung übernommen hat, machte sich gar für eine Subsidiaritätsrüge stark. So sollte der Europäischen Kommission signalisiert werden, sie überschreite ihre Befugnisse. Der Bundesrat aber verzichtete am 8. Juli schließlich auf eine solche Protestnote.

KLAUSEL GEGEN HASS UND GEWALT

Einiges von dem, was die EU-Kommission in ihrem Reformpapier vorlegte, trifft in Deutschland aber auch auf Zustimmung. So begrüßen die Ministerpräsidenten etwa die Sicherung des Herkunftslandprinzips. Dadurch bleibt gewährleistet, dass für Medienunternehmen in der EU immer das Recht des Landes gilt, von dem aus Inhalte – auch grenzüberschreitend – gesendet werden. Um die europäische Medienbranche zu stärken, will die EU-Kommission Video-on-Demand-Anbieter wie Amazon Prime oder Netflix außerdem dazu verpflichten, zwanzig Prozent ihrer Online-Videotheken mit europäischen Produktionen zu bestücken.

Unumstritten ist auch das Thema Jugendschutz. Die EU-Kommission will in diesem Bereich an Video-on-Demand-Angebote die gleichen Maßstäbe anlegen wie an TV-Programme. Außerdem sollen Videoportale und Streaming-Anbieter künftig sicherstellen, dass Minderjährige keine Videos anklicken, die ihre körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung beeinträchtigen könnten. Trotz vieler ökonomischer Regulierungen und Euro-Visionen zielen manche der geplanten Reformen also auch auf Bereiche wie Soziales oder Kultur und stärken damit letztlich die Integration. So schlug die EU-Kommission für die neue AVMD-Richtlinie auch eine Klausel vor, um Bürger online vor Videos zu schützen, die Menschen aufgrund von Geschlecht, Rasse, Religion oder Herkunft diskriminieren und zu Hass oder Gewalt aufstacheln.
Grafik Euro-Visionen - Gemeinsamer Markt für audiovisuelle Medien
Dr. Matthias Kurp
Dr. Matthias Kurp ist Professor im Fachbereich Journalismus/Kommunikation der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln. Zuvor arbeitete er freiberuflich als Medienforscher und Journalist (Print, Online, TV, Hörfunk).
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