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Grenzfall Zero-Rating
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Grenzfall Zero-Rating

Ende August hat das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) die Umsetzungs-Richtlinien der ersten Europäischen Verordnung zur Netzneutralität vorgelegt. Was bedeuten die neuen Regeln für die Praxis?
Text Thomas Lohninger, Illustration Christoph Kienzle

Bevor der amerikanische Programmierer und Jurist Tim Wu 2003 in einem Aufsatz den Begriff Netzneutralität prägte, existierten bereits ähnliche Ansätze wie das Best-Effort- oder das Ende-zu-Ende-Prinzip. Dahinter steckt der Grundsatz, dass in einem dezentralen Netz alle Daten unabhängig von Absender, Inhalt oder Adressat so schnell wie möglich transportiert werden müssen. In einem Datennetz ohne zentrale Steuerung sind deshalb alle Netzteilnehmer gleichberechtigte Sender und Empfänger. Das Internet ist agnostisch gegenüber den übertragenen Inhalten und versucht für jede Verbindung die bestmögliche Qualität zu liefern. Anstatt innerhalb des Internets von einer zentralisierten Stelle Entscheidungen über die Korrektheit, Legalität oder Priorität von Datenpaketen zu treffen, überlässt das Internet diese Entscheidung den Anwendungen an beiden Enden der Verbindung. Diese Verschiebung der Intelligenz an die Enden des Netzwerks, gepaart mit seiner schichtbasierten Architektur, führten zu einer beispiellosen Flexibilität, Innovation sowie Vielfalt des Internets und zu enormen Wirtschaftswachstum.

Statt eine Lizenz für einen neuen Internetdienst beantragen zu müssen oder mit jedem Internetanbieter, dessen Kunden potenziell erreicht werden sollen, über die Konditionen der Verbindungen zu verhandeln, ist es möglich, mit extrem niedrigen Markteintritts- und Innovationskosten einen neuen Dienst global und gleichberechtigt verfügbar zu machen. Von den derzeit weltweit fünf Firmen mit dem höchsten Börsenwert haben alle als kleine Start-ups ohne großes Eigenkapital angefangen. Als Mark Zuckerberg mit seinen drei Kollegen 2004 Facebook startete, bezahlte er 85 US-Dollar pro Monat für die Serverkosten. Kein anderes Medium erlaubt es Anbietern so einfach, neue Dienste zu starten, und ermöglicht es Konsumenten, so leicht zwischen verschiedenen Anbietern zu wechseln.

DIE INTERESSEN DER TELEKOM-BRANCHE

Den Vorteilen dieses Prinzips stehen die Interessen der privatwirtschaftlichen Betreiber der Internet-Infrastruktur gegenüber. Telekommunikationsunternehmen waren es über lange Zeit gewohnt, über die Abrechnung von Telefonie- und später Nachrichten-Services Geld zu verdienen. Im System von Terminierungsentgelten verdienten diese Firmen sogar daran, ihre Kunden für andere verfügbar zu machen. Die Logik solcher Geschäftsmodelle spielt bei der Debatte über die Netzneutralität eine große Rolle. Anstatt vom stetig steigenden Bedarf an Internetbandbreiten zu profitieren, versuchen Telekommunikationsunternehmen für die Nutzung einzelner Dienste gesonderte Entgelte zu verlangen. So wollen die Netzbetreiber einen Teil der Erlöse von Google & Co. gegen „ein paar Prozent Umsatzbeteiligung“ (Deutsche Telekom) abbekommen. Die Folge wäre ein Ende der Netzneutralität.

Dem verständlichen Interesse der Telekom-Branche, mehr Erlöse zu erzielen, indem die Zukunft an das eigene Geschäftsmodell angepasst wird, stehen die gesellschaftlichen Kosten einer Welt ohne Netzneutralität gegenüber. Würden sich gestaffelte Tarife für die unterschiedliche Behandlung von Daten durchsetzen, wäre dies das Ende der Netzneutralität. Jede Bevorzugung einzelner Dienste oder Diensteklassen ist zum Nachteil aller anderen Dienste oder Nutzungsformen des Internets. Letztlich würden damit die Angebotsfreiheit von Inhaltsanbietern und die Wahlfreiheit von Kunden eingeschränkt.

Die eingangs erwähnten positiven Effekte von niedrigen Markteintrittshürden, Innovationskosten und Angebotsvielfalt gingen verloren, wenn bestimmte Spezialdienste bevorzugt würden oder Netzbetreiber von Inhalteanbietern Zusatzentgelte verlangen dürften. Der daraus resultierende Druck auf neue Angebote hätte auch medienpolitisch gravierende negative Konsequenzen. Die bereits angespannte Finanzierungssituation von journalistischer Tätigkeit im digitalen Bereich würde durch etwaige Zugangsentgelte vor enorme Probleme gestellt. Noch nicht etablierte oder nicht-kommerzielle Angebote könnten sich nicht etablieren, und die negativen Auswirkungen auf Meinungs- und Informationsfreiheit wären drastisch.

DIE NEUEN EU-REGELN

Vor dem Hintergrund der geschilderten Pläne der Telekom-Branche wurde schon seit 2010 eine gesetzliche Absicherung der Netzneutralität auf EU-Ebene diskutiert. Die EU-Kommission hat 2013 auf Initiative von Kommissarin Neelie Kroes schließlich ein Gesetz zu diesem Thema auf den Weg gebracht, das jedoch eher Netzneutralität abzuschaffen als abzusichern drohte. Der ursprüngliche Entwurf dieser EU-Verordnung über einen Telekom-Binnenmarkt wurde im April 2014 vom Europäischen Parlament in erster Lesung stark verbessert und im Oktober 2015 in einer finalen Fassung beschlossen. Der Text enthielt allerdings – zum Beispiel in Bezug auf Vorrechte für sogenannte Spezialdienste – einige mehrdeutige und widersprüchliche Passagen. Das Gesetz erteilte dem Gremium für Europäische Regulierungsbehörden Elektronischer Kommunikation (GEREK) den Auftrag, innerhalb von neun Monaten Leitlinien zur harmonisierten Anwendung des Gesetzes auszuarbeiten, die am 30. August 2016 vorgestellt wurden.

Was also bringen die neuen Netzneutralitätsregeln in der Praxis? Es gibt klare Verbote für das Blockieren von Webseiten und Diensten im Internet. Eine Zensur aus kommerziellen Motiven, wie beispielsweise das Blockieren von Voice-over-IP-Diensten im Mobilfunk, ist damit nicht erlaubt. Es gibt ein neues Recht, beliebige Inhalte und Dienste im Internet zu nutzen und bereitzustellen. Dieses Recht erlaubt auch die Nutzung beliebiger Geräte. Damit ist zugleich ein Verbot von Tethering (dem Nutzen einer Internetverbindung des Smartphones für PC, Laptop oder Tablet) nicht haltbar. Nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen ist es zulässig, aus Gründen des Verkehrsmanagement zwischen Klassen von Diensten zu unterscheiden.

SPEZIALDIENSTE UND ZERO-RATING

Spezialdienste sind gemäß den neuen GEREK-Leitlinien nur noch in ihrer ursprünglichen Wortbedeutung erlaubt, nämlich als Dienste, die nichts mit dem Internet zu tun haben. Ein Spezialdienst wird immer auf der Überholspur übertragen und in der Regel nicht auf das Datenvolumen des Kunden angerechnet. Für entsprechende Services muss nach den neuen EU-Vorgaben gesonderte Kapazität zu Verfügung gestellt werden. Spezialdienste dürfen bei ihrer Nutzung die Qualität des normalen Internets für die Nutzer nicht beeinträchtigen – es sei denn, dies ist wie bei ADSL technisch unumgänglich. Wichtig ist, dass Spezialdienste objektive technische Qualitätsanforderungen verlangen müssen, die über das normale Internet nicht abzudecken sind. So wird sichergestellt, dass Spezialdienste zwar für jene Angebote möglich sind, die wirklich nicht über das Internet angeboten werden können. Im Umkehrschluss dürfen Anbieter normaler Online-Inhaltsdienste jedoch nicht die Überholspur eines Spezialdienstes kaufen. Damit ist das Ökosystem des Internets abgesichert und einer der größten Streitpunkte in der europäischen Debatte im Sinne der Netzneutralität geregelt. Günther Oettinger, der deutsche EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, konnte sich mit seiner Forderung von Spezialdiensten für ferngesteuerte Autos nicht durchsetzen.

Unklarer ist das Bild beim sogenannten Zero-Rating, also der Praxis von Netzbetreibern, ihren Kunden Datenvolumen für bevorzugte Dienste kostenfrei anzubieten. Ein bekanntes Beispiel dafür war der Spotify-Deal der Deutschen Telekom, bei dem die Spotify-Nutzung „ohne Belastung des Datenvolumens“ blieb, was für Neukunden seit dem 2. August nicht mehr möglich ist. Im Bereich Zero-Rating haben es die Regulierungsbehörden leider nicht geschafft, klare Regeln zur einheitlichen Umsetzung zu finden. Es wurden zwar Kriterien für die Bewertung von Zero-Rating formuliert, letztlich entscheidet jedoch die nationale Regulierungsbehörde im Einzelfall, ganz ähnlich wie in den USA. Klar verboten ist indes das Blockieren oder Drosseln von Zero-Rating-Diensten, nachdem das Datenvolumen des Kunden verbraucht ist.

Fazit: Mit den neuen Regeln hat Europa sich in die Reihe der Demokratien der Welt eingeordnet, die Netzneutralität gesetzlich absichern. Die neuen Regeln sind ein großer Schritt in Richtung eines neutralen Internets – auch wenn bei der Durchsetzung durch die Regulierungsbehörden Wachsamkeit geboten ist.


Illustration unter Verwendung von istockphoto.com: Eric Isselée, Kseniya Abramova

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Thomas Lohninger ist Geschäftsführer des Arbeitskreises Vorratsdaten Österreich (AK-Vorrat). Er hat als Policy Advisor bei European Digital Rights das EU-Gesetz zur Netzneutralität intensiv begleitet und unterstützte die Kampagne savetheinternet.eu.

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