Sonntag, 17:25. Anika Tietze vom Team „gesternschau“ nimmt auf der Bühne eine Urkunde von Jurymitglied Richard Gutjahr entgegen. Ihr Team hat beim ersten Digital Journalism Hackathon des Media Lab Bayern überzeugt.
Die News von gestern, neu verpackt. Die Idee der gesternschau war richtig gut. Gut genug, um die Idee weiterzuführen? Immerhin werden im Lab aktuell wieder Spots für Startup-Fellows frei, die dort gefördert werden.
Die gesternschau war erfolgreich - Anika Tietze erhält eine Urkunde von Hackathon-Juror Richard Gutjahr
Samstag, 10:15. Gut 30 Stunden früher. Das Team „gesternschau“ gibt es noch gar nicht. Der gemütliche „Mountain View“-Raum im Media Lab Bayern ist vollgepackt mit Medienprofis und Computerfachleuten. Jeder trägt ein farbiges Badge, das ihn entweder als Coder, Designer, oder News-Enthusiasten ausweist. Oder als Journalisten wie Tietze. Leiterin Lina Timm begrüßt die Hacker im Lab – und stellt kurz darauf die für einen Hackathon alles entscheidende Frage.

Stefan Sutor von der BLM und Media-Lab-Leiterin Lina Timm begrüßen die Hackathon-Teilnehmer
10:55 Uhr. „Was sind eure Ideen?“ steht nun in großen Lettern an die Wand projiziert. Einer der News-Enthusiasten, Chris Eberl, steht auf und erzählt, was er vorhat: Die gesternschau. „Eine App oder Website, bei der man statt tagesaktueller News täglich das bekommt, was vor zwanzig, hundert oder tausend Jahren passiert ist. Diese alten News können wir aufpeppen. Und der User lernt sogar noch etwas dabei. Heute vor tausend Jahren war Spatenstich der Pyramide, zum Beispiel.“ Er erklärt, was er braucht: Journalisten für den Content. Programmierer für den Code. Und jemanden fürs Design. Tietze hört gespannt zu. Die Idee gefällt ihr.
10:25 Uhr. Teamfindung, oder anders gesagt: Chaos. Geplantes Kreativchaos. Dutzende „Hacker“ wuseln wild durcheinander. Acht Ideen gibt es, und jeder soll sich zu der gesellen, die er unterstützen will. Manche finden gar keinen Anklang, und die Initiatoren stehen etwas verlassen da. Kurzerhand werden sie mit einem großen „X“ von der Project Wall gestrichen. Nicht jede Idee hat das Zeug zur Realisierung. Fünf Ideen kristallieren sich heraus. Tietze geht sofort auf Eberl zu. Drei andere tun dasselbe. Das Team der gesternschau hat sich gefunden. Die fünfköpfige Gruppe konkurriert mit Projekten verschiedenster Art: der „NewsButler“ soll dem User zu bestimmten Tageszeitpunkten auf ihn zugeschnittene News „servieren“. Das Team „Flagger“ will eine geobasierte Plattform für Reisende sein, die sich über die neue Umgebung informieren wollen. Die Idee des Teams „Journo“ ist es, dass Leser statt Zeitungen oder Verlage einzelne Journalisten abonnieren können. Und bei „Munich Munich“ geht es wie bei der gesternschau um die Vergangenheit: Mit einer App will es die Geschichten einzelner Straßen und Gebäude nachzeichnen.
10:45 Uhr. Brainstorming. Das Team der gesternschau hat sich in ein Büro zurückgezogen. Die ersten Ideen sprudeln. Eberl schnappt sich einen Stift und schreibt an eine Folie an der Wand. „Stellen wir uns erstmal vor. Sagt mir, wo eure Leidenschaften liegen.“ Nach wenigen Minuten wird klar, dass das Team alles hat, was nötig ist. Tietze und Britta Häfemeier sind Journalisten. Dazu kommt als Coder der Informatik-Student Jonatan Juhas sowie Dimitra Papadopoulou, die einen „Designer“-Badge trägt.
Das erste Brainstorming: Chris Eberl übernimmt die Initiative
12:00 Uhr. Wie soll die gesternschau aussehen? Welche Inhalte werden wie präsentiert? „Wie Social Media in der Antike“, meint Häfemeier. „Snapchatartig oder mit Memes“, glaubt die Designerin Papadopoulou. „Infotainment – man soll Spaß haben, aber etwas lernen“, schlägt Tietze vor. Die Ideen werden gruppiert, danach Aufgaben verteilt. Juhas, der Programmierer, macht sich an den Code. Die beiden Journalisten suchen Inhalte. Eberl übernimmt die Organisation und setzt die Kommunikationstools Slack und Trello auf. Das Team scheint auf Anhieb zu harmonieren. Wie das wohl in ein paar Stunden aussieht?
20:30 Uhr. Die gesternschau nimmt konkrete Formen an. Das Team arbeitet an einer App und einer Website, deren Grundkonzept Infotainment ist. Die Inhalte der Nachrichten von gestern sollen lustig aufbereitet werden, aber ihren Lerneffekt behalten. Aktuelle Themen wie etwa die Flüchtlingskrise werden mit historischen Ereignissen wie Völkerwanderungen in Verbindung gebracht. Generell soll den vornehmlich jungen User ein peppig-bunter Themenstrauß erwarten. Von Wissenschaft über Klatsch und Tratsch bis hin zum Wetter und Kuriosem. Alles eben, als sei heute das Jahr 1946. Auf dieses einigen sich die fünf für die Präsentation. Die Art und Weise, wie die alten Inhalte dem User nähergebracht werden, soll dagegen alles andere als altbacken erscheinen, sondern stark an die Zielgruppe angepasst werden. Wie in sozialen Medien schaffen Memes, GIFs, kurze Videos und kuriose Symbolbilder eine neue Ansprache. So wählen die Teammitglieder beispielsweise ein GIF des schrulligen Serien-Forschers Sheldon Cooper für die „heutige“ Top-Meldung „Wissenschaftler stellt der Welt die Atomuhr vor“. Die gesternschau will Digital Natives ansprechen – und in dieser Form soll der Content auch aufbereitet sein.

So sieht die prototypische Startseite der gesternschau aus
Auch an der Artikelebene tüftelt das Team und füllt einige mit echten Inhalten. Das Thema soll die Inhaltsform vorgeben. Das kann, wie im Beispiel der Atomuhr, ein kurzer Text sein. Eine Reihe geschichtsträchtiger Bücher, die auf der Canberra Book Week 1946 das Ergebnis einer Umfrage waren, wird dagegen zu einer Abfolge witziger Memes, die bestimmt im Gedächtnis bleiben.

Ein Beispiel-Artikel: Mit Memes will die gesternschau junges Publikum ansprechen
3:00 Uhr. Hackathon = Hacken + Marathon. Auch am Finanzierungsplan wird noch gefeilt. Diesen werden die Juroren später besonders loben. Das Team entscheidet sich für ein Abomodell in der Form von „Snapchat“. Die Inhalte sollen nur 24 Stunden lang gratis zur Verfügung stehen – quasi ein kurzes Zeitfenster in die Nachrichten der Vergangenheit. Wer diese danach noch sehen will, muss zahlen. Während Eberl und die drei weiblichen Teammitglieder auch das Fenster mit Ideen volltapeziert haben, arbeitet Programmierer Juhas im Open-Space-Raum des Labs am Code. Der Student wird in dieser Nacht nicht mehr als eine halbe Stunde schlafen.

Hackathon im wörtlichen Sinne: Programmierer Jonatan Juhas arbeitet die Nacht durch
Sonntag, 14:01 Uhr. Abgabtermin! Pünktlich auf die Minute hat die gesternschau alle Vorgaben des Media Labs erfüllt. In einem Google-Doc haben die fünf unter anderem den Elevator pitch, das MVP (Minimum Viable Product), die Zielgruppe, den Use case, ein Geschäftsmodell und die Marktanalyse skizziert. Außerdem muss das Projekt bereits online einsehbar sein. Auch das ist der Fall – den Protoypen kann man hier begutachten. Während die Jury schon das Ergebnis bewertet, bereitet sich das Team auf die Präsentation vor. Die ist schon in einer Stunde!
15:34 Uhr: „Hey, ich hab eine Pushnachricht gekriegt. Heute wurde die Atomuhr erfunden!“ Als drittes von fünf Teams muss sich die gesternschau auf der Bühne bewähren. Tietze und Eberl übernehmen je eine Hälfe des Vortrags - Häfemeier unterbricht diesen mehrfach, weil sie „Notifications“ von der gesternschau auf ihr Smartphone bekommt. Das Publikum soll spüren, wie sich die gesternschau anfühlen wird. „Wir gehen für euch in die verstaubten Archive“, erklärt Tietze den Zuschauern. Wir verpacken alten Content für euch neu!“

So sieht eine Push-Nachricht der gesternschau aus
17:00 Uhr. Die Jury berät sich. Ben O’Hear von Revelate Design, Substanz-Chefredakteur Georg Dahm, Senior Java Developer Katya Kempkens von stylight.de und Moderator und Blogger Richard Gutjahr prüfen die Konzepte auf Herz und Nieren. Bewertet werden journalistische Idee, Code, Design und Learnings. Und einer der Juroren ist Teil des ersten Preises: Dem Hackathon-Gewinner winkt ein Design-Workshop mit O’Hear.

Die Präsentation der gesternschau kommt bei Jury (erste Reihe links) und Publikum gut an
17:30 Uhr. Preisverleihung. Das Team gesternschau hat nicht nur inhaltlich überzeugt, sondern auch den schrillsten Auftritt hingelegt. Und als einziges Team sogar GIFs seiner Mitglieder gebastelt. Der Lohn: Dritter! Altes neu zu verpacken – diese Idee habe der Jury gefallen, erklärt Gutjahr. Tietze und ihre Kollegen holen sich ihre Urkunde und ihre Preise auf der Bühne ab und applaudieren kurz darauf den Siegern des Hackathons: „Journo“. Das Konzept „buy a journalist“ hat die Jury noch mehr überzeugt als die neuverpackten Nachrichten von gestern.
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18:50 Uhr. Nach dem Hackathon ist vor der Arbeit. Die letzten Grüppchen verlassen das Media Lab. Das Entscheidende bei Hackathons ist aber nicht das Event selbst. Sondern das, was folgt. Anika Tietze, Chris Eberl und ihre Teammitglieder nehmen Platz 3 als Ansporn. Die gesternschau hat Potenzial. Ein Netzwerk aus Autoren soll aufgebaut werden. Und das Timing könnte für neue Startups in München kaum besser sein – vielleicht wurde ja sogar einer der neuen Fellows des Media Labs hier geboren.