
Ein Screenshot aus dem dramatischen YouTube-Video
Das Video der Frau poppt während der Krim-Krise auf dem Bildschirm von Malachy Browne auf. Er ist Magaging Director von reported.ly - dem Newsservice, der seine Follower durch die sozialen Medien Teil der Geschichte werden lässt. Distributed Journalism heißt das.
Browne erklärt am Beispiel des Videos, wie er arbeitet: „Ich habe hier ganz klar dramatischen, nachrichtentauglichen Inhalt vor mir. Aber ich muss sicher sein, dass es das ist, was es angibt zu sein“, erklärt er den Journalisten in einem Panel des Media Lab Bayern bei den Medientagen München.
„Der Beschreibung nach war es ein Bombenangriff auf Kramatorsk in der Ukraine. Ich schaue mir also die Details an: Ein Wasserturm, eine Straße, Häuser mit roten Dachschindeln. Ich zoome bei Google Maps auf Kramatorsk – und finde sofort die Details wieder.“

Nur ein Blick auf Google Maps - und schon ist klar, von wo aus das Video aufgenommen wurde / © Google
Schneller als die OSZE
Browne hat eine erste Bestätigung. Und nun? „Als nächstes durchsuche ich Twitter und andere soziale Netzwerke nach Kramatorsk. Auf Russisch. Ich finde Fotos der Raketen. Ein Journalist auf meiner Twitter-Liste, Christopher Miller, sagt, dass es sehr laut war. Und er fotografierte die Leichen auf der Straße.“
All das postet Browne auf Twitter: „Wir finden schnell andere Videos und Verifikationen. Dann schauen wir uns die Bomben auf den Fotos an – und finden die Richtung heraus, aus der sie kamen. Ich hole mir Übersichtskarten der Frontlinien und stelle fest, dass die Rebellen in Richtung Kramatorsk unterwegs waren. Wir informieren uns über die Reichweite der Raketen und den Standpunkt der ukrainischen Streitkräfte. Wir setzten das Puzzle immer weiter zusammen, bis wir sagen können: Die Raketen kamen sehr wahrscheinlich aus dieser Richtung.“
Die OSZE bestätigte diese Vermutung am nächsten Tag. Die Follower von reported.ly waren schneller informiert – oder, wie Browne es mehrfach formuliert, „am Puls der Story“.
#Ukraine: Situation Map June 27 - July 2, #Sloviansk #Kramatorsk Front pic.twitter.com/eG3XAanN75
— Warfare Studies (@WarfareStudies) 3. Juli 2014
Die Vision des Ebay-Gründers
reported.ly, der Social-First-Newsroom, bei dem die Follower mittendrin sitzen. Eine Homepage gibt es zwar mittlerweile, aber diese dient vor allem der Sammlung der verschiedenen sozialen Medienkanäle. „Wenn etwas passiert, veröffentlichen wir zuallererst in den sozialen Medien. Wir antworten auf die Events, während sie passieren“, betont Browne.
Ganz besonders glänzt reported.ly in Gebieten, in denen der internationale Journalismus oft zu kurz kommt oder zu lange braucht: Wenn Burundi die Kommunikationsmöglichkeiten abschaltet, wenn in Ägypten nur sehr einseitig berichtet wird oder wenn es in Jemen für Journalisten schlicht zu gefährlich ist: genau dort setzt reported.ly an. Mit viel Know-How, guten Kontakten – und einer Followerschar williger Teilzeitjournalisten.
Browne und seine Kollegen ziehen möglichst viele Menschen in die Geschichte hinein. Genau das ist die Vision von Finanzier und Ebay-Gründer Pierre Omidyar. Browne: „Durch die sozialen Medien kann man zur Quelle einer Geschichte vorstoßen und wendet auf diese Information Journalismus an. Man stellt die richtigen Fragen, baut eine Geschichte auf und setzt Ereignisse in Kontext.“ reported.ly will kein Breaking-News-Service sein, sondern diese verständlich machen. Die sozialen Medien ordnen – weil diese ein natürliches Chaos darstellen.
Eine Straße voller Blut
Browne zeigt noch ein Beispiel, wie die Arbeit von reported.ly funktioniert: Diesmal steht ein schauriges Foto am Anfang der Geschichte. Entdeckt hat er es in einer seiner Twitterlisten. Es zeigt eine Straße voller Blut – der Beschreibung nach aus Duma, Syrien.
Diesmal geht Browne so vor: „Ich überprüfe, ob es dort am Vortag geregnet hat, was der Fall war. Dann checke ich, ob Google dieses Foto schon einmal indiziert hat. Als klar ist, dass es sich um ein neues Foto handelt, suche ich mit der arabischen Form des Ortsnamens andere bekräftigende Fotos auf Twitter und Topsy, einer Suchmaschine für Twitter.“
Browne kommt der Quelle näher. Erst identifiziert er die Gebäude im Hintergrund mit Google Maps. Über das Logo eines lokalen Uploaders findet er auf Facebook den Fotografen des ursprünglichen Fotos. Der wiederum ist mit einem Freund Brownes in Syrien verbunden. Und durch den stößt er auf einen anderen Fotografen, der behauptet, Augenzeuge gewesen zu sein. Er gibt an, dass die rote Flüssigkeit kein Blut sei - sondern Farbe. Ein Farbengeschäft sei in die Luft gesprengt worden. Brownes Follower schlagen vor, nach Farbengeschäften in der Nähe zu suchen. Doch diese Fährte stellt sich (leider) als falsch heraus.
Die ganze Story – jeden investigativen Schritt davon – kann man über Brownes Twitter-Feed verfolgen. Mehrere Tweets werden zu einer Geschichte. Hier ein Teil davon:
Was it raining in Duma overnight? Knowledge engine @wolframalphaUK says it was yesterday, similar conditions today pic.twitter.com/FhgMjMzMn5
— Malachy Browne (@malachybrowne) 12. Februar 2015
Die Follower sehen in Realzeit, wie sich die Story entwickelt. Browne: „Wenn man nur einen Tweet absetzt, kann es sein, dass er einfach verschwindet. Das versuchen wir zu verhindern, indem wir eine Geschichte aus Tweets erzählen. Wir knüpfen sie aneinander.“
Kaltstart mit „Charlie Hebdo“
Die Follower von reported.ly können gute Recherchearbeit nicht nur sehen. Sie können jeden Schritt nachvollziehen, können die (oftmals Gratis-) Tools wie Tweetdeck, Topsy oder Gramfeed selbst benutzen. Das schafft großes Vertrauen. Und auch ethische Herausforderungen meisterte reported.ly bereits. Bei seiner Feuertaufe, den Angriffen auf die Pariser Redaktion von Charlie Hebdo nur zwei Tage nach dem Launch, hätte das Video der Ermordung eines Polizisten zweifellos zahllose Klicks abgeräumt. Aber es wurde absichtlich nicht geteilt. „Das haben die Leute honoriert“, glaubt Browne: „Das Problem in den sozialen Medien ist: Du siehst immer dann etwas Schockierendes, wenn du es am wenigsten erwartest. Wir haben keinen ethischen Code, was wir posten. Es ist Instinkt.“
Thanks! MT @KarenWorkman: So happy for @reportedly for taking home an #ONA15 for their Charlie Hebdo coverage pic.twitter.com/ADBB4FGJW0
— Andy Carvin (@acarvin) 27. September 2015
Chefreporter Andy Carvin (M.) und sein Team räumte für die Berichterstattung um die Charlie-Hebdo-Anschläge einen Online-Journalism-Award ab
Ein iPhone wird ein Stück Zeitgeschichte
Instinkt ist in Brownes Team zum Glück reichlich vorhanden. Dabei besteht es inklusive ihm selbst lediglich aus sechs über den Globus verteilten Seelen. Drei in den USA, drei in Europa. Der reported.ly-Newsroom existiert nur virtuell: Über Slack oder Skype tauschen die Mitglieder Infos und Dateien aus.
Dass Milliardär Omidiyar hierbei Personalkosten sparen wollte, ist nicht anzunehmen. Statt auf Masse setzt reported.ly auf geballte Klasse – auf Menschen, die soziale Netzwerke wie Twitter als journalistisches Medium auf die Landkarte gesetzt haben. So wie Andy Carvin.
Der Gründer und Chefreporter ist wohl der bekannteste unter den sechs Redaktionsmitgliedern. Er ist vielleicht der einzige Mensch, der ein Telefon berühmt genug gemacht hat, dass es in ein Museum darf: Mit seinem iPhone schrieb er während des Arabischen Frühlings mithilfe von Twitter Journalismusgeschichte. Heute steht es als zeitgeschichtliches Artefakt im US-Nationalmuseum in Washington. Carvin, der die kaum zu begreifende Zahl von 198.000 Tweets abgesetzt hat, stand wegen seiner Arbeit im Mittleren Osten auch auf der Nominierungsliste der TIME 100 - der Liste der einflussreichsten Menschen der Welt. Seine reported.ly-Kollegen Asteris Masouras aus Griechenland und Marina Petrillo aus Italien können aber mithalten: Sie schafften es jeweils auf die Independent-Liste der einflussreichsten (nicht-prominenten!) Twitter-Nutzer.
Sechs Redaktionsmitglieder, wenngleich versiert und einflussreich, klingt zwar wirklich wenig für eine globale Newsredaktion. Aber auf sich gestellt sind sie nicht. Die, wenn man sie so nennen mag, „erweitere Redaktion“ von reported.ly – seine Twitter-Follower - zählt bereits 18.600 Mitglieder.