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Deine Story in Echtzeit


Schluss mit statischen Livetickern – das Münchner Startup Storytile baut auf multimediale Echtzeit-Reportagen.


Der Rauch der brutzelnden Hühnerkeulen brennt in seinen Augen, er kneift sie zu und drückt ab. „Ein, zwei Schnappschüsse und dann ist das Bild im Kasten“, sagt Oliver Seidl, während er vor einem moosgrünen Grill hockt, um den Mann dahinter abzulichten.
Es ist der 1. Mai, Berlin, Kreuzberger Straßenfest. Seidl, der Fotograf, ist gemeinsam mit seinem Kollegen Paul Knecht für den ersten großen Live-Test ihres Multimedia-Tools Storytile nach Berlin gefahren.  „Wir wollen mit dem Test herausfinden, ob den Leuten gefällt, was wir entwickelt haben und ob es reicht, um storytile irgendwann verkaufen zu können“, sagt Seidl während er auf der Suche nach guten Motiven durch Kreuzberg läuft.
 

Fotojournalismus der Neuzeit

Der 30-jährige Münchner und sein 27-jähriger Kollege haben storytile gemeinsam gegründet. Das junge Startup will durch modernes Storytelling im Netz Fotojournalismus in die Neuzeit holen. Ein hehres Ziel, das die Jungunternehmer schon jetzt mithilfe verschiedener Tools und Software umsetzen. Sie haben Apps für die einfache Fotoaufnahme und -übertragung mit Onlinetool zur Foto-Live-Darstellung auf Webseiten entwickelt. „Davon profitieren zwei Seiten“, sagt Seidl, „der Fotograf vor Ort und der Redakteur in der Redaktion.“
Der Fotograf verbindet sein Android-Smartphone mit der Spiegelreflexkamera und schickt seine Bilder per storytile-App direkt in die Redaktion. Dieselbe Möglichkeit bietet storytile auch Journalisten, die ohne eine professionelle Kamera unterwegs sind. Die können mit der App selbstgemachte Handy-Fotos direkt in das Content-Management-System (CMS) ihrer Redaktion einspeisen. Bevor der Fotograf die Bilder überträgt, kann er sie innerhalb der App nachbearbeiten, beschriften und sortieren.
Die Redakteure, die die Bilder empfangen, können diese sofort in eigene Artikel und Slideshows einbauen – oder in einen Foto-Live-Blog von einem Event einfließen lassen. Social-Media-Inhalte wie Tweets, Facebook-Kommentare und Youtube-Videos lassen sich per Drag-and-Drop-Prinzip ebenfalls einbinden. Storytile soll zukünftig von Newsportalen, Nachrichtenagenturen, aber auch Marketingabteilungen zur Begleitung von Firmen-Events genutzt werden, das erhoffen sich die Macher.  „Der Vorteil unserer Software ist, dass sie sich in jedes Webseiten-Layout einbauen lässt. Das Design eines Newsportals wie Spiegel Online zum Beispiel bleibt so also dasselbe“, sagt Seidl.

Exist-Stipendium

Seidl und Knecht kennen sich aus ihrem Design-Studium in München, sie verfolgten für ihre Abschlussarbeit als Fotojournalisten 2011 die Entstehung des Südsudans. Bei gemeinsamen Aufträgen merkten sie immer wieder, dass die Arbeitsabläufe zwischen ihnen und den Redaktionen zu lange dauerten: „Moderne Technik bietet Fotografen die Möglichkeit, Bilder fast in Echtzeit weiterzuverschicken. Das Problem, dass dein Bild längst veraltet ist, wenn es publiziert wird, entfällt somit“, sagt Seidl. Storytile soll Arbeitsprozesse verkürzen und Onlinejournalismus noch aktueller machen. Seidl und sein Team wollen aber auch davon leben: „Der Fotojournalismus-Markt ist tot, du verdienst kaum Geld und deshalb wollten wir etwas entwickeln, was neu ist, mit dem wir uns absetzen können und gleichzeitig den Journalismus moderner machen.“
Seit September 2013 tüfteln Seidl und Knecht an ihrer Idee. Mithilfe des EXIST-Gründerstipendiums hat das Team die Möglichkeit, storytile marktreif zu machen.  Erst durch die staatliche Förderung des Stipendiums war es möglich, sich auf storytile zu fokussieren: „Davor hatten wir noch Nebenjobs und konnten uns bloß ein, zwei Tage zusammensetzen, um storytile weiterzuentwickeln.“ Neben Seidl, der vor allem für Marketing zuständig ist, und Knecht, der sich um Design und Entwicklung kümmert, gehören zwei Entwickler zum storytile-Team.
In Berlin knipst Oliver Seidl ein Mädchen, die sich das Gesicht zweier Pandabären auf die Knie gemalt hat. Das Bild erscheint sofort auf seinem an der Kamera angeschlossenem Handy, er klickt es an und beschriftet: „Mädchen mit Panda-Knien auf dem Kreuzberger myfest, Oranienstraße“ – die Übertragung dauert wenige Sekunden. In München empfängt seine Kollegin das Bild, schreibt einen kurzen Text dazu und stellt es drei Minuten nachdem Seidl es in Berlin fotografiert im Storytile-Liveblog online.

Paul Knecht und Oliver Seidl
Im Bild: Die Storytile-Gründer Paul Knecht und Oliver Seidl

Storytile : Berliner Lokalzeitung, 1 : 0

Dass ihre Idee durchaus Potenzial hat, zeigt sich, als Seidl zufällig den Fotochef einer großen Berliner Lokalzeitung trifft. Der ist ebenfalls mit Fotoausrüstung in der Hauptstadt unterwegs. Während er neben Seidl steht, der permanent aktuelle Bilder hochlädt, telefoniert er mit der Redaktion – jemand solle mit dem Fahrrad zu ihm kommen, um seine Speicherkarte und zur Bearbeitung ins Büro zu bringen. „Bei uns sind die Bilder jetzt schon online,” sagt Seidl und zeigt auf das Smartphone an seiner Kamera. Während der Fotograf des Lokalblattes noch den Fahrradkurier wartet, hat Seidl schon mehr als hundert neue Bilder hochgeladen. Der Fotochef ist begeistert und will die Einführung der Technik mit seinem Chefredakteur besprechen.
 

Beta-Test

Momentan bietet das Startup noch eine kostenlose Beta-Version seiner Software inklusive App und Technik an. Bis Ende 2015 jedoch haben sich die Fotografen drei Ziele gesteckt: Sie wollen ihre App auch für iPhone-Benutzer anbieten, es möglich machen, dass auch Videos sofort hochgeladen und im CMS bearbeitet werden können und ein ausgeklügeltes Bezahlmodell entwickeln. „Herauszufinden, wie wir storytile am besten verkaufen können, wird unsere Hauptaufgabe sein. Dabei überlegen wir gerade, ob wir eine generelle Mietversion zur Verfügung stellen, die Nutzer nach Zugriffen auf unser Tool bezahlen lassen oder ein Flatrate-Modell anbieten“, sagt Seidl.

Was den ersten großen Test angeht, wurden die Erwartungen der Jungunternehmer übertroffen. Storytile konnte seine Reichweite in den sozialen Netzwerken vervielfachen. Bald stellen sie ihr Tool auch in einer Redaktion vor. Die VJs vom Aus- und Fortbildungkanal afk TV haben storytile übrigens in Kooperation mit INNOVATE:MEDIA im Auftrag der BLM auf der re:publica 2015 getestet.   
 
Text: Marieke Reimann

Screen des Reportageformats
Screenshot des Reportageformats