Strukturwandel der Mediennutzung. Was früher als Science Fiction galt, ist heute (virtuelle) Realität: Das Smartphone ist erst die erste Stufe eines Prozesses, bei dem sich die Medienumgebung und -nutzung der Menschen grundlegend ändert. Eine Bestandsaufnahme
INTERVIEW Dirk Martens
Portemonnaie? Schlüssel? Smartphone? Das sind die drei Dinge, die man heute auf keinen Fall vergessen will, wenn man das Haus verlässt. Aber das Smartphone ist auch zu Hause meist in Griffweite, wo es als Wecker, Taschenlampe, universelles Medienangebot, Spielekonsole oder allwissende Informationsquelle dient. Das Telefonieren gehört dabei zu den eher selten genutzten Funktionen. Kommuniziert wird vielmehr über Facebook und inzwischen vor allem über Whats-App. Der Instant-Messenger dient neben der privaten 1:1-Kommunikation auch zum persönlichen Austausch innerhalb von Freundesgruppen oder Schulklassen. Firmen nutzen Whats-App als Guerilla-Marketingtool, das durch höhere Nutzerakzeptanz zu mehr Klicks auf den Seiten der Absender führt. In Zukunft sollen nach dem Willen von WhatsApp-Chef Jan Koum auch Firmen-Hotlines den Dienst nutzen: Lange Wartezeiten und Gespräche etwa mit dem Voice-System eines Call-Centers könne man dann durch eine Text- oder Sprachnachricht ersetzen.
Während die Domäne des Tablet-Computers die Wohnung ist, wird das Smartphone sowohl zu Hause als auch unterwegs genutzt. Diese Universalität führt dazu, dass eingehende Online-Nachrichten meist zuerst auf dem Smartphone bemerkt werden, ganz gleich ob daheim, unterwegs, am Arbeitsplatz oder im Urlaub. Allenfalls das Lesen sehr umfangreicher Nachrichten spart man sich unterwegs auf, bis man einen größeren Bildschirm zur Verfügung hat, zu Hause oder im Büro.
Beflügelt wird die mobile Nachfrage durch responsive Website-Designs, welche die Darstellung auf die Bildschirmgröße des jeweils verwendeten Endgeräts optimieren: Durch daumentaugliche Buttons und eine sich automatisch anpassende Bild-/Text-Anordnung werden Inhalte auch unterwegs leicht nutzbar. Internetseiten im HTML5-Standard können zwar nicht im gleichen Maße die sensorischen Fähigkeiten der Smartphones wie etwa Mikrofon, Kamera oder Gyroskop nutzen, sind dafür aber spontan und ohne Download einer App verfügbar.
SMARTPHONE ALS ALLTAGSBEGLEITER
Aus der ARD-/ZDF-Onlinestudie 2015 geht hervor, dass 55 Prozent der Onliner unterwegs »zumindest selten« das Internet nutzen. Dies entspricht 43 Prozent der Gesamtbevölkerung ab 14 Jahren. »Nur?«, mag man sich fragen, wenn man in der U-Bahn auf die Menschen hinter den hochgehaltenen Smartphones blickt. Der Grund liegt darin, dass nach den jüngeren Altersgruppen der 14- bis 29-Jährigen, die mobiles Internet als Early Adopter schon länger nutzen, nun auch immer mehr Ältere Smartphones besitzen, diese aber deutlich selektiver nutzen. Das macht sich besonders bemerkbar, wenn statt der »zumindest seltenen« die tägliche Nutzung betrachtet wird: Fast die Hälfte der 14- bis 29-Jährigen nutzt mobiles Internet täglich (48 %), aber nur knapp ein Viertel der 30- bis 49-jährigen Onliner (23 %), und bei den 50- bis 69-Jährigen sind es sogar nur sechs Prozent. Gleichzeitig stieg die Verbreitung von Smartphones stark an. Inzwischen, so ergaben mehrere Studien, nutzen im Durchschnitt sechs von zehn Deutschen (ab 14 Jahren) ein solches Gerät. Blickt man auf die Jugendlichen, dann ist, so geht aus der Jugendstudie JIM 2015 hervor, die Gruppe der 12- bis 19-Jährigen mit Smartphones fast vollversorgt (92 %). Auch unterwegs ins Internet zu gehen, ist für drei Viertel aller Handy-Besitzer dieser Altersgruppe dank Internet-Flatrate normal.
Bremsend bei der Smartphone-Nutzung wirken außer unterschiedlichen Habitualisierungsgeschwindigkeiten in den verschiedenen Altersgruppen vor allem die begrenzten und teuren Datenvolumina der Flatrate-Tarife beim Mobilfunk. Die heute gebräuchlichen Highspeed-Volumina von 0,5 bis 2 Gigabyte reichen zwar nicht für eine regelmäßige Bewegtbildnutzung unterwegs, für andere beliebte Anwendungen aber schon. Nach Angaben des Digitalisierungsberichtes 2015 der Landesmedienanstalten steigt zwar zum Beispiel die Nutzung von TV-Streams auf mobilen Endgeräten zu Hause rasant an, unterwegs stagniert sie jedoch. Grund dafür ist außer der Begrenzung der Highspeed-Volumina auch das nur spärliche Public-Wi-Fi-Angebot öffentlicher Hotspots. Laut ARD-/ZDF-Onlinestudie umfasst die Liste der unterwegs meistgenutzten Internetanwendungen vor allem weniger datenintensive Nutzungen wie die Informationssuche, das Lesen und Schreiben von E-Mails, den Besuch von Communitys, die Nutzung von Suchmaschinen und Wetter-Apps. Wenn unterwegs Videos etwa in Wartesituationen genutzt werden, dann handelt es sich meist um kürzere Formate bei Facebook oder YouTube.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die schon seit 2012 währende Kooperation von T-Mobile mit dem schwedischen Musik-Streamingdienst Spotify. Kunden höherwertigerer Tarife des Mobilfunkanbieters, die ein kostenpflichtiges Premium-Abo von Spotify für knapp zehn Euro haben, können damit Musik streamen, ohne dass ihr Highspeed-Volumen dafür verbraucht wird. Vodafone zog mit einem ähnlichen Kombi-Angebot nach, das mit dem französischen Streamingdienst Deezer realisiert wird. Mit der vielfach geforderten Netzneutralität ist das zwar kaum vereinbar, doch statt zu klagen, hoffen die meisten Wettbewerber offenbar ihrerseits auf ähnliche Kooperationen. Bei den noch viel datenintensiveren Video- on-Demand-Angeboten von Amazon Prime bis Watchever sind solche Kombinationsgeschäfte derzeit noch nicht in Sicht.
Auf der Geräteseite ist der Trend ungebrochen, einen möglichst universellen Medienzugang zu bieten. So besitzen etwa Blu-Ray-Player oder Smart-TV-Geräte Apps für den Empfang von Webradio, YouTube und einen Online-Zugang, über den prinzipiell die gesamte internetvermittelte Medienwelt zugänglich ist. Geräteseitig reduziert sich der Empfang der verschiedenen, per Internetprotokoll übertragbaren Medien auf Funktionen, die sich preiswert als Software integrieren lassen. Wenn ein Gerät heute so viel kann wie früher mehrere, bedeutet diese von den Kunden geschätzte Universalität für die Verbraucherelektronik-Industrie zunächst geringere Absatzchancen, während sich auf den verbleibenden Produktfeldern der Wettbewerb verstärkt. Unterstützt durch kürzer gewordene Produktzyklen macht sich das etwa in einem starken Preisverfall im Smart-TV-Bereich bemerkbar.
WEARABLES MIT RISIKEN
Schwindende Margen will die Industrie mit der Erschließung neuer Produktfelder ausgleichen, etwa durch sogenannte Wearables. Der Trend zum "Always on", der Diffusion in immer mehr Nutzungskontexte, soll durch diese tragbaren elektronischen und vernetzten Geräte weiter vorangetrieben werden. Der Branchenverband Bitkom ermittelte, dass inzwischen 18 Prozent der Deutschen ab 14 Jahren ein Fitness-Armband benutzen und sechs Prozent eine Smartwatch, um eigene Gesundheits- oder Fitness-Daten zu erfassen. Gemessen werden Schritte oder Strecken, der Puls, die Schlafphasen und vieles mehr. Für eine schnelle Diffusion in weite Bevölkerungskreise müssten allerdings noch einige Hürden genommen werden. Die Datenbrille Google Glass ist nicht nur aus optischen Gründen, sondern auch an Datenschutzbedenken der potenziellen Käufer gescheitert. Vermutlich kommt Google 2016 mit einer neuen »Enterprise-Edition« auf den Markt, die sich nicht mehr an den Massenmarkt, sondern an professionelle Anwender, etwa aus der Medizin-Branche, richtet – zumindest wurden entsprechende Pläne bereits der Telekommunikationsaufsicht FCC in den USA zur Genehmigung vorgelegt. Auch bezüglich anderer Wear-ables haben die Deutschen derzeit noch viele Bedenken. Eine von Bundesjustizminister Heiko Maas am 9. Februar beim Safer Internet Day 2016 vorgestellte Verbraucherumfrage von YouGov ergab, dass sich die Deutschen bei den Geräten, die »uns heute im wahrsten Sinne des Wortes auf Schritt und Tritt begleiten« (O-Ton Heiko Maas), vor allem um drei Dinge Sorgen machen: um falsche Messwerte, um falsche Gesundheitsratschläge und vor allem um den Datenschutz. Nach Angaben von YouGov hatten 39 Prozent der Befragten Bedenken, ob diese sehr persönlichen Daten von Dritten missbraucht werden könnten, nur (oder immerhin?) fünf Prozent war es egal, was mit ihren Daten geschieht.
Wie der Umgang mit persönlichen Daten etwa bei Rabatt-Karten oder auch sozialen Online-Netzwerken gezeigt hat, können Datenschutzbedenken jedoch schnell in den Hintergrund treten, wenn ein Angebot ausreichenden Nutzen verspricht. Bei der oben zitierten Bitkom-Befragung konnten sich 75 Prozent der Befragten vorstellen, ihre Gesundheitsdaten aus Wearables oder Smartphone-Apps an ihren Arzt weiterzuleiten – bei Menschen mit chronischen Erkrankungen galt dies sogar für 93 Prozent. Eine Nutzung ihrer Daten durch ihre Krankenkasse oder Krankenversicherung akzeptierten sogar 33 Prozent, wenn es dafür Rabatte (30 %) oder individuelle Gesundheitsinfos (16 %) gebe. Einerseits entwickelt sich also in unserer alternden Gesellschaft ein großer Markt für Technologie im Bereich gesundheitlicher Prävention und Überwachung, etwa um automatisch einen Krankenwagen zu rufen, wenn ein Herzinfarkt droht. Systeme, die beim Ausbleiben typischer Bewegungsaktivitäten Verwandte alarmieren, könnten älteren Menschen helfen, länger im eigenen Zuhause zu leben. Andererseits erwächst aus solchen Diensten aber auch ein Missbrauchspotenzial, das der gesetzlichen Regulierung bedarf.
VIRTUELLE REALITÄT WIRD WIRKLICHKEIT
Wichtige Impulse werden auch 2016 vom Thema Virtual Reality (VR) ausgehen. Vor zehn Jahren sorgte das Rollenspiel »Second Life« für Furore. Die mediale Aufmerksamkeit ruht heute jedoch nicht mehr auf den frühen virtuellen Gehversuchen von »Second Life«, das die damals völlig überzogenen Erwartungen nicht erfüllen konnte. Die Virtual-Reality-Technologie steht erst jetzt vor ihrem Durchbruch. Für Juli dieses Jahres wird »Oculus Rift« erwartet, eine VR-Brille, mit der eine bislang unerreichte Immersion, also ein tiefes Eintauchen in eine virtuelle Umgebung, erreicht werden soll. Die seit 2014 zum Facebook-Konzern gehörende Firma Oculus VR verspricht mit der 599 $ teuren Brille samt integriertem Kopfhörer eine neue Dimension von Virtualität. Mit Valve Vive (HTC) und Playstation VR (Sony) sollen noch in diesem Jahr zwei weitere Brillen folgen. Bereits jetzt ist das Gerät Samsung Gear VR verfügbar, ein 99 $ teures, am Kopf zu befestigendes Tragesystem (Head-Mounted Display), in das ein Samsung-Smartphone eingesteckt wird, das als 3D-Bildschirm dient.
Einzug werden VR-Technologien in den kommenden Jahren sicherlich nicht nur im Bereich der heute schon zahlreichen VR-Games halten, sondern auch bei vielen ernsthaften und professionellen Anwendungen, zum Beispiel in der Industrie, der Medizin, beim Militär oder der Architektur. Auch im Unterhaltungsbereich gibt es gerade seit der zweiten Hälfte 2015 erste Gehversuche, VR kommerziell nutzbar zu machen. In San Francisco fand im Oktober 2015 die erste Virtual-Reality-Kinovorführung statt, bei der alle Kinobesucher einen 360-Grad-Film gleichzeitig erleben konnten: Bei der Vorstellung des Horrorfilms »Parallaxed« kamen Samsungs VR-Brillen Gear-VR zum Einsatz, die alle synchron dieselben Bilder zeigten. Um das Gemeinschaftsgefühl weiter zu stärken, wurde auf Kopfhörer verzichtet, der Ton kam wie in einem normalen Kino aus Surround-Boxen. In Amsterdam startete mit derselben Technik Ende Oktober 2015 Europas erstes VR-Kino, ging – ganz ohne Leinwand – auf Tour und machte im Januar auch in Berlin Station.
Die US-Firma The Void plant die Eröffnung von VR-Centern in Nord-Amerika, Europa, Asien und Australien. In diesen digitalen Erlebnisparks sollen dann auch speziell entwickelte Haptik-Westen eingesetzt werden, um die Immersion um eine weitere Dimension zu erweitern. Noch nicht gelöst ist allerdings das Problem der »Gaming Sickness«: einer Übelkeit, die durch widersprüchliche optische und physische Wahrnehmungen der Sinnesorgane ausgelöst wird. Von einem echten VR-Durchbruch als Einstieg in einen Massenmarkt ist erst in fünf bis zehn Jahren auszugehen, wenn auch genügend VR-Brillen im Markt sein werden. Zumindest als Übergangstechnologie in Richtung Virtual Reality bietet sich bereits das 360-Grad-Video an. Dank preiswerter hochauflösender Kameras, die an Gestellen angebracht werden und kugelförmig alle Richtungen abdecken, lassen sich Filme produzieren, bei denen der Betrachter selbst die Blickrichtung bestimmt. Außer YouTube unterstützt auch Facebook seit einiger Zeit diese interaktiven Filme, die sich nicht nur für Action-Aufnahmen im Sportbereich eignen, sondern auch im Tourismus für Rundumsichten von Hotelbesichtigungen, für Werbung und vieles mehr eignen.
DIGITALE POTENZIALE
Die Daseinsberechtigung klassischer Medienanbieter steht in digitalen Zeiten mobiler, universeller und konvergenter Medien keinesfalls in Frage. Im Gegenteil: Die Mediennutzung wird durch die zunehmende Digitalisierung steigen. So wird ein selbstfahrendes Auto neue Chancen der Mediennutzung bieten, wenn ähnlich wie in der Bahn entspannt auch Zeitungsinhalte gelesen oder Bewegtbilder geschaut werden können. Auch viele andere Technologien wie die Smartwatch bieten erweiterte Chancen für Inhalteanbieter. Allerdings müssen die Inhalte an die neuen Nutzungskontexte und -orte hinsichtlich Länge, Art (Text, Video oder Audio), Auswahl etc. angepasst werden.
Alles in allem bleibt es für Medienanbieter eine lohnende Herausforderung, im Kampf um Aufmerksamkeit in sich technologisch schnell verändernden Märkten durch starke Marken eine hohe Nutzerbindung zu erreichen. Dabei gilt es, das Repertoire an Inhalten über verschiedene Kanäle auch zeitlich flexibel »on Demand« zu vermarkten.
Foto: iStockphoto/mikkelwilliam
Infografik: rose pistola