Totgesagte leben länger, aber nur dank neuer Impulse
Streaming, Social Media, VOD – das Nutzungsverhalten hat sich verändert. Lineares Fernsehen verliert kontinuierlich an Zuspruch. Damit es nicht zum Auslaufmodell wird, braucht es neue Impulse: echte Live-Erlebnisse im Programm, digitale Anschlussfähigkeit und starke Inhalte mit klarer Zielgruppenansprache. Die TV-Konzerne sind trotz Werbeflaute zuversichtlich,
denn Totgesagte leben länger.
Text: Lisa-Priller Gebhardt
Totgesagt wurde das Fernsehen schon öfter, doch es lebt weiter. „Das klassische lineare Fernsehen wird auch in zehn Jahren noch seine Nutzer haben, auch wenn sich die Nutzung absehbar weiter in Richtung non-linear verschieben wird“, sagt Thomas Henkel, Partner bei Deloitte und zuständig für den Bereich Medien. Das Fernsehen erweist sich laut Deloittes Media Consumer Survey trotz Streaming-Boom als überaus robust. Dennoch verliert es leicht, aber kontinuierlich an Zuspruch – und zwar als Einziges der abgefragten Videoangebote. 34 Prozent der Befragten sehen weniger fern als vor einem Jahr.
Wichtigster Hebel ist das Programm
Wie kann es also gelingen, das Interesse am linearen TV aufrechtzuerhalten? Der wohl wichtigste Hebel ist, davon zeigt sich Henkel überzeugt, das Programm. „Auch in der KI-Welt kommen Menschen - egal welchen Alters oder welcher Soziodemografie - primär wegen der Inhalte zu den Sendern. Ihre wichtigste Aufgabe ist es deshalb, attraktiven Content anzubieten, der vom Zuschauer gewünscht wird. Er muss den Nerv der Zielgruppe treffen“, so Henkel. Zwar investieren sowohl RTL Deutschland als auch ProSiebenSat.1 immerhin noch je eine Milliarde Euro ins Programm. Doch wie viel inhaltlicher Spielraum bleibt vor allem den privaten Häusern, wenn inzwischen Controller bei den Inhalten das letzte Wort haben? Schließlich ist der wirtschaftliche Druck durch die Werbeflaute immens. Die Auswirkungen bekommen alle Privatsender zu spüren. Im ersten Halbjahr 2025 fehlten laut Nielsen im Bereich klassisches Fernsehen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 2,9 Prozent der Werbeumsätze. Das führt mitunter zu hektischen Entscheidungen. „Wenn bei einer neuen Sendung die Quote nicht auf Anhieb die Erwartungen übertrifft, bedeutet dies für neue Formate oft schnell das Aus“, sagt Susanne Marschall, Direktorin des Kompetenz-Zentrums Medien an der Uni Tübingen. Die Flop-Wahrscheinlichkeit liege im Fernsehen „schätzungsweise bei eins zu vier“, so Marschall. Ihre Wahrnehmung: Alle gehen nur noch auf Nummer sicher, machen lieber den xten Spin-Off einer etablierten Sendung oder greifen tief in die Bestands-Kiste.
Mit Live-Events und dichtem Erzählen punkten
Aber es gibt sie noch, die Highlights im Programmschema. Es sind vor allem die Live-Events, inszeniert als Gemeinschaftserlebnis, die die gesamte Familie vor den Bildschirm locken. „Bei Live-Sport-Events, egal, ob Fußballspiele, die Olympischen Spiele oder die Ski-Weltmeisterschaft, lebt das Fernsehen von der Eventisierung dieser Programmfarbe. Die Energie dieses Feuers speist sich aus der Tatsache, dass die Menschen zeitgleich schauen und sich darüber sofort oder spätestens am nächsten Tag über die aktuellen Entwicklungen in den Sportwettbewerben oder auch Formaten wie „Germany’s Next Topmodel“ oder „Wer stiehlt mir die Show?“ austauschen können“, sagt Kabel-Eins-Chef Felix von Mengden. Das sei ein Production Value, der den TV-Sendern nie genommen werden könne. Auch, wenn die Zuschauerzahlen der großen Shows seit Jahren leicht rückläufig sind, sprechen sie immer noch ein Millionen-Publikum an. „Im Streaming kommt so ein komprimierter Buzz selten zustande, da sich die Abrufe meist über einen längeren Zeitraum verteilen. „Nur nicht langweilen!“, lautet die Devise. Wer im Linearen bei seinem Publikum noch punkten will, sollte schnell auf den Punkt kommen. Das weiß auch von Mengden. „Wir müssen heute sehr dicht erzählen. Man darf sich keine Längen mehr erlauben, denn die Zuschauenden haben nicht mehr die Geduld. Man muss sie schon in der ersten halben Stunde der ersten Episode fesseln, sonst sind sie weg“, sagt der Kabel-Eins-Chef. Inwieweit sich die klassischen Sender auf die Ansprüche der Zuschauer einstellen können, wird mehr und mehr Auswirkung auf künftige Zuschauerzahlen haben. Die Streamingdienste haben hier längst neue Standards geschaffen. Die Zahl der SVoD-Abos wächst sukzessive. Aktuell liegt sie laut Deloitte-Studie bei 2,5 Abos pro Haushalt. „Die Zahlungsbereitschaft steigt. Das ist eine Entwicklung, die wir auch in anderen Ländern sehen“, so Deloitte-Partner Henkel.
Smarter Mix mit Mediatheken bringt Nutzenden mehr Flexibilität
Die Bereitstellung der eigenen Inhalte als Video on Demand (VoD) – das ist ein weiterer wichtiger Punkt, der entscheidend ist für die Zukunft der etablierten Sender. Denn Storytelling boomt überall, aber nicht mehr im 20.15-Uhr-Korsett. „Das Lineare und das Nonlineare überlappen sich“, sagt Henkel. Die deutschen TV-Sender werden nur dann nicht von den großen US-Streaming-Diensten abgehängt, wenn sie sich breiter aufstellen. So haben beispielsweise ARD und ZDF ihre Streaming-Angebote zusammengelegt. Die ARD-Mediathek ist laut Statista derzeit die reichweitenstärkste Sender-Mediathek in Deutschland, mit rund 2,7 Millionen täglichen Nutzern. Die ZDF Mediathek konnte im Februar 2025 78,5 Millionen Visits verzeichnen. „Gerade bei den älteren Zuschauern sind die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender sehr populär. Sieben von zehn der in unserer Studie Befragten über 65 Jahre nutzen Mediatheken“, weiß Henkels Kollege Ralf Esser, Leiter des Research Teams bei Deloitte. Ordentlich Bewegung in den Streaming-Markt dürfte die Übernahme von Sky Deutschland durch die RTL Group bringen. „Das bringt uns auf Augenhöhe mit den amerikanischen Plattformen, vor allem Netflix und Amazon Prime“, kündigte der Bertelsmann-Chef Thomas Rabe an. Unterdessen sind viele Menschen vom Überangebot der Mediatheken und Streamer überfordert. Die Sender füttern den Empfehlungsalgorithmus mit zahlreichen Datenpunkten, damit die Zuschauer ihre optimalen Lean-Back-Momente im VOD-Angebot finden. Tatsächlich ist es für die Sender ein anspruchsvoller Job geworden, die Kundenstrecke kurz zu halten, also die Zeit, die Kunden auf dem Service verbringen, bis sie den ersten Inhalt starten. Die „Screens in Motion“-Studie 2025 von TV Spielfilm hat herausgefunden, dass die Über-50-Jährigen durchschnittlich sieben Minuten benötigen, bis sie das passende Programm für den Abend finden. Die Unter-29-Jährigen tun sich deutlich schwerer. Dort liegt die Durchschnitts-Zeit bei der Suche bei rund 20 Minuten. Die Sender setzen deshalb auf eine Vielzahl von Instrumenten, individuell kombiniert je nach Angebot, um ihre Inhalte bekannt zu machen. Dies reicht von Social Media bis zu Connected-TV-Platzierungen. Dennoch sind sich angesichts der hohen Suchzeiten alle sicher: In der Distribution der Inhalte müssen sie in Zukunft noch besser an das Publikum heranrücken.
Trash-TV: Industrieprodukte wie Zucker und Chips
Gleichzeitig weist Henkel darauf hin, dass es nicht zielführend ist, das Programm aus dem linearen TV eins zu eins in die Mediatheken zu packen. „Je mehr sich Deutschland zu einem non-linearen Markt entwickelt, umso mehr wird es auch zum Bezahlmarkt“, sagt Henkel. Da bei einer Verlagerung ins Streaming die Finanzierung stärker über Abonnements laufe, komme es hier darauf an, „Nutzern relevanten Mehrwert zu bieten.“ Doch wie spricht man gerade die jüngeren Zielgruppen an, die sich dem linearen TV teilweise verschließen? Bei Kabel Eins funktionieren beispielsweise Verlängerungen für die Gen Z auf Youtube sehr gut. So hat überraschenderweise „Rosins Restaurants“ mit Frank Rosin, das bereits seit 15 Jahren läuft, auf Youtube eine große Fan-Gemeinde. „Es ist unglaublich, wie viele Reaction-Videos es zu diesem Format bei YouTube gibt. Das ist zwar ein anderer Zugang, also eher eine situative Unterhaltung, aber es zeigt uns einmal mehr, dass Frank Rosin auch bei der jungen Zielgruppe zieht“, freut sich von Mengden. Unterhaltung ist aber nicht gleich Unterhaltung. Wenn es um die Zukunft der Fernsehinhalte geht, bringt die Medienexpertin Marschall auch die Wirkung der Formate ins Spiel. Sie würde sich wünschen, die Privatsender agierten mit mehr Bedacht: Denn auch Massenmedien hätten eine gesellschaftliche Verantwortung. „Schlimmste Trash- und Schadenfreude-Shows tragen nicht zur Verbesserung der Gesellschafts-Kommunikation bei“, so Marschall. „Solche Formate sind zwar beliebt und erfolgreich. Aber das sind Industrieprodukte wie Zucker und Chips auch. Und trotzdem machen sie krank“, so die Wissenschaftlerin.