Audio- und Social-Media-Angebote im Internet verändern den klassischen Hörfunk. Mitten im Transformationsprozess erinnern sich viele Programmmacher wieder an alte Radio-Erfolgsrezepte, garniert mit Podcasts, Personalities und persönlicher Höreransprache.
Text Inge Seibel
„Radio Fritz hat bisher Radio gemacht und nebenbei Internet. Zukünftig stehen YouTube und Instagram im Fokus und erst dann das Radio“, so läutete Programmdirektor Jan Schulte-Kellinghaus im Februar den Programm-Relaunch des rbb-Jugendsenders aus Potsdam ein. Nachdem die Reichweite immer weiter sank, gibt es bei Radio Fritz auf UKW jetzt deutlich weniger journalistische Inhalte, dafür mehr Videos, Memes und Audios im Internet. Die „Entwortung“ des Programms scheint ein allgemeiner Trend bei den öffentlich-rechtlichen Jugendprogrammen zu sein, der auch schon bei MDR Sputnik seit Herbst des vergangenen Jahres zu hören ist: Nachrichtensendungen gibt es seitdem nur noch in der Morningshow von MDR Sputnik.
Lokale Nachrichten wieder im Trend
Weniger Wort, mehr Musik? Dieser Trend lässt sich bei den meisten Radiostationen mit älteren Zielgruppen nicht bestätigen. Natürlich wird auch in diesen Fällen immer mehr Inhalt für die digitale Ausspielung produziert, also Podcasts, Skills für Smart Speaker und Streaming-Content. Im Zentrum der Bemühungen steht aber weiterhin das lineare Radioprogramm, das nach wie vor vom Großteil der Hörer eingeschaltet wird, obwohl es längst die meisten seiner klassischen Alleinstellungsmerkmale verloren hat.
Da das Musikprogramm angesichts der werbefreien und personalisierbaren Streaming-Dienste an Attraktivität einbüßt, setzen viele Programmmacher inzwischen auf einfallsreiche Events, relevante Inhalte und die Intensivierung des Kontakts zum Hörer. Das Radio neu erfinden? Die meisten Stationen zeigen, dass das gar nicht nötig ist und setzen stattdessen auf bewährter Rezepte: Lokale Nachrichten sind wieder absolut im Trend – allerdings wesentlich mutiger in der Auswahl und anders präsentiert als noch vor wenigen Jahren. Wer beispielsweise in München am Morgen Charivari 95.5 einschaltet, der wird im „Live-Ticker der Stadt“ zweimal pro Stunde ausführlich mit den „meisten Nachrichten aus München“ versorgt. Dabei mischen sich auch Weltnachrichten unters Lokale. Entscheidend ist, was die Redaktion für die Münchner am Morgen als wissenswert erachtet. So wird der Absturz des Flugzeugs in Äthiopien in eine Meldungsfolge eingereiht zwischen örtlicher Sturmbilanz der vergangenen Nacht und den angekündigten Streiks der Taxifahrer am Nachmittag.
Wichtige Nähe zu den Hörern
„Keiner ist so nah dran am Hörer wie wir, und an diesem Erfolgsrezept hat sich bis heute nichts geändert“, sagt Willli Schreiner. Seit 1988 ist der Geschäftsführer von Die Neue Welle GmbH & Co. KG (Nürnberg) erster Vorsitzender des Verbandes Bayerischer Lokalrundfunk (VBL) und überzeugt davon, dass lokale Programme eher im Aufwind als ein Auslaufmodell sind. „Wir berichten live aus allen Ecken, egal ob ein Sturmtief wütet, eine Bombe aus dem Weltkrieg gehoben wird oder Politiker in der Wahlnacht vor dem Ergebnis zittern. Machen das Spotify oder Co.? Nein!“ Sorgen macht ihm außer dem Erlösmodell der Zukunft eher die wachsende Konkurrenz des Bayerischen Rundfunks, der – ganz dem lokal-regionalen Trend folgend – massiv die „lebensnahe Berichterstattung aus allen Landesteilen“ ausbaut. Deshalb eröffnete die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt im Februar auch ein neues Studio im niederbayerischen Deggendorf mit zwei Hörfunkkorrespondenten und vier trimedialen Stellen.
Auch Timo Fratz, in Nordrhein-Westfalen Chefredakteur von Radio Bielefeld, setzt weiter voll auf Hörernähe und lokale Kompetenz. Bereits im dritten Jahr verzichtet er während der gesamten lokalen Sendezeit montags bis freitags zwischen 6 und 19 Uhr zugunsten von Eigenproduktionen auf die Nachrichten des Mantelprogramms von radio NRW. Podcasts sieht er eher als modischen Hype, Geld dafür ist vermutlich auch keines da: „Vor ein paar Jahren haben uns Berater und Coaches immer erzählt, die Leute hätten die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfischs. Heute erzählen die gleichen Experten, wir müssten alle Podcasts machen.“
Professionell und persönlich
Und was ist mit Social Media? Auf die neuen Möglichkeiten der Hörerkommunikation via WhatsApp möchte beispielsweise Andreas Kramer, Chefredakteur von Radio Kiepenkerl im Kreis Coesfeld, nicht mehr verzichten. WhatsApp ist mittlerweile für viele Radiostationen der wichtigste Kommunikationskanal. Allerdings mit Tücken: „Der Hörer erwartet, dass wir immer für ihn da sind und damit eine Antwort innerhalb von spätestens zehn Minuten geben. Das können wir nicht leisten, schon gar nicht am Wochenende“, schränkt Kramer ein. Pünktlich um 6 Uhr setzt auch die Morningshow-Crew von Radio Hamburg auf WhatsApp und verschickt die wichtigste Meldung aus der Stadt auf die Smartphones ihrer Hörer.
Noch immer schwer zu finden und ganz oben auf der Wunsch- und Werteskala der Radiostationen sind meinungsstarke Personalities am Mikrofon. Hier hat das Radiounternehmen Regiocast vergangenen Oktober ein überaus erfolgversprechendes Digitalradio-Experiment gestartet: Man nehme eine prominente Persönlichkeit und baue drum herum ein Radioprogramm. Herausgekommen ist Barba Radio, der Sender mit vermutlich Deutschlands bekanntester Moderatorin Barbara Schöneberger. Professionell, witzig und ideal für die Frau (und auch Mann) im Alter ab vierzig Jahren. An der inhaltlichen Gestaltung von Barba Radio ist Barbara Schöneberger maßgeblich beteiligt. Zum Gelingen des Projektes tragen zwölf Mitarbeiter bei. barbaradio.de hat natürlich eine eigene Barba-Radio-App, einen Instagram-Account sowie einen Skill für Amazons Smart Speaker Alexa. Schönebergers Promi-Interviews gibt es auch als Podcast, und seit April ist sie jetzt jedes Wochenende in einer Drei-Stunden-Schiene auch auf UKW in den Regiocast-Programmen Antenne MV, Radio PSR und Radio Schleswig-Holstein zu hören.
Illustration: iStock.com/Sergio Bellotto
Porträt Inge Seibel: privat