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Jenseits von Krimi und Komödie
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Jenseits von Krimi und Komödie

  YouTube, Netflix und Amazon Prime haben die Sehgewohnheiten des TV-Publikums verändert. Deshalb müssen jenseits von Krimi und Komödie neue Konzepte her, damit sich das Fernsehen gegen Streaming-Videofabriken behaupten kann. Statt Formatierung und kalkulierter Kopie des Ewiggleichen sind Aktualität, Kreativität und Live-Charakter gefragt.

Text Senta Krasser

Die ARD hat sich entschieden, über Fernsehserien zu reden, und zwar im Fernsehen. Seit Ende September ist einmal im Monat auf dem Spartenkanal One die Talkshow Seriös – Das Serienquartett zu sehen. Sie ist als eine Art „Literarisches Quartett“ für Fernsehserien konzipiert. Zur Runde gehören Meister ihres Fachs wie die Drehbuchautoren Annette Hess („Weissensee“) und Ralf Husmann („Stromberg“), aber auch die Vox-Moderatorin Annie Hoffmann („Grill den Henssler“) und der Komiker Kurt Krömer, die sich für diesen Job qualifiziert haben, weil sie ganz viele Serien „leidenschaftlich“, aber auch kritisch gucken.

Vor dem Tribunal der Vier, das mit apodiktischen Urteilen Erinnerungen an Marcel Reich-Ranicki weckt, ist selbst die heilige Kuh von HBO nicht sicher: „Game of Thrones“, unlängst nach acht Staffeln unter enttäuschtem Fan-Getöse endgültig finalisiert, sei im Prinzip „wie ,Lindenstraße‘ mit Drachen“. Und mit „TKKG im 20er-Jahre-Kolorit“ fällt das Urteil über „Babylon Berlin“, also die Story über den Zug mit dem Gold und den Russen, wenig milder aus. Dass, abgesehen von letzterem Prestigeprojekt von ARD und Sky, beim „Serienquartett“ kaum über Produktionen made in Germany gesprochen wird, zeigt den Serienmangel hierzulande.

Boom mit Kapazitätsgrenzen

Was Netflix, Amazon & Co. monatlich inzwischen auf den Markt werfen, ist ein Frontalangriff auf klassisches Fernsehen: High-End-Serien in Kino-Anmutung, die mit Erzähllänge, -dichte und -geschwindigkeit spielen und deren Plot und Figurenzeichnung den Intellekt reizen, statt einzuschläfern, wie es, um Himmels Willen, seit Jahr und Dienstag heitere Nonnen abends in der ARD tun. Allerdings: Fünf Jahre nachdem Netflix als erster globaler Streaming-Anbieter begann, auch die Deutschen zu „Binge Watchern“ zu machen, stößt der non-lineare Massenausstoß internationaler Ware auf Produzentenseite an Qualitäts- und auf Konsumentenseite an Kapazitätsgrenzen – zumal nun auch die TV-Kreativen „so langsam in Fahrt kommen“ (Kurt Krömer).

„4 Blocks“ (TNT Serie), „Bad Banks“ (ZDF), „Beat“ (Amazon Prime) oder „Dark“ (Netflix) sind zurecht preisgekrönte Beispiele – auch weil sie endlich das in Komödie und Krimi festgefahrene Genre-Repertoire deutscher Fiction erweitern. Milieustudie, Banken-Thriller, Subkulturporträt, Mystery: Das alles ist plötzlich wunderbar in horizontalem Storytelling verhandelbar. Diese Entwicklung färbt auch auf den 90-Minüter ab, dieses urdeutsche Spezifikum, das bis zur superteuren Superserie „Babylon Berlin“ als der kostenintensivste Programmteil mit dem höchsten Minutenpreis galt. Thematisch und formal ist auch im traditionellen Fernsehfilm eine Weitung erkennbar. Exemplarisch führte das zuletzt der ARD-Mittwochsfilm Play vor, der von der Gaming-Sucht einer 17-Jährigen handelt. Regisseur Philip Koch wandelte einen Erzählstrang von mehreren Szenen in ein vollanimiertes Echtzeit-Game um. Das hatte man vorher so noch nicht gesehen.

Solche fernsehgeschichtlich spannenden Experimente haben indes einen Haken: Sie treffen meist nicht den Massengeschmack (übrigens ebenso wenig wie das Gros gehypter Serien – es sei hier nur an den „House-of-Cards“-Flop in deutscher Erstausstrahlung bei Sat.1 erinnert). Und sie garantieren somit auch nicht die Zuschauermarktanteile, aus denen die öffentlich-rechtlichen Programme ihre Daseinsberechtigung ziehen. Allein der „Tatort“, dieses seit fast fünfzig Jahren lodernde Lagerfeuerfernsehen, bringt es fertig, erzählerische Funken zu schlagen und trotzdem die feste Verabredung mit einem Millionenpublikum am Sonntag um 20.15 Uhr einzuhalten. Wenn der ARD-Programmdirektor Volker Herres in einem Interview nun ankündigt, dass seine Anstalt sowohl im Fiktionalen als auch im Dokumentarischen „mehr Reihen und weniger Einzelstücke“ machen müsse, „weil das in der non-linearen Welt eine bessere Bindung schafft“, dann sind damit hoffentlich nicht noch mehr solcher Ermittlerteams gemeint, wie sie in den Donnerstagabend-Krimis von Amsterdam über Lissabon bis Zürich den immergleichen Plot vor wechselnder Bilderbuchkulisse darstellen.

Aktualität plus Live-Momente

Nach Jahren der Überlegungen, wie man der Bedrohung durch Streaming-Dienste begegnen soll, ob man womöglich jetzt auch ein eigenes „House of Cards“ auf die Beine stellen müsse, ist man bei RTL und ProSiebenSat.1 indes zu einer anderen Erkenntnis gekommen: Wir müssen raus aus wohlkalkulierter Planbarkeit und Verlässlichkeit, wir müssen unser Publikum mehr überraschen. Die Stärke des klassischen Fernsehens sei, und da sind sich die Senderchefs Jörg Graf (RTL) und Kaspar Pflüger (Sat.1) einig, Aktualität im Programm plus Live-Momente, mit denen gleichzeitig sehr viele Menschen erreicht werden. Das scheint nur allzu klug, denn im Bereich Information hat Netflix (noch) keine Relevanz für sich erkannt, sieht man einmal ab von Doku-Projekten wie die American Factory in Kooperation mit den Obamas. Und den Live-Faktor bekämen die Verbreitungsplattformen technisch wohl hin, aber es widerspricht ihrem Geschäftsmodell des zeitunabhängigen Videokonsums.

Ausgerechnet eine aus Südkorea adaptierte Musik-Show hat den linearen Broadcastern den Glauben daran zurückgegeben, dass sich nach dem Aus von „Wetten, dass…?“ (ZDF) doch noch ein großes, generationenübergreifendes Gemeinschaftsgefühl schaffen lässt: The Masked Singer auf ProSieben. Annähernd vierzig Prozent Marktanteil erreichte das Finale. Und es zeigte sich: Ist die Idee spannend und die Produktion fesselnd, sind Alt wie Jung durchaus bereit, sich zu einer festen Uhrzeit vor dem Bildschirm zu versammeln, um zeitgleich mit Millionen anderen Menschen vor dem TV-Monitor oder parallel dazu im Internet zu rätseln, wer hinter den Masken singt. Selbstredend, dass ProSieben bereits eine zweite Staffel angekündigt hat – und alle Programmchefs jetzt fieberhaft nach einem ähnlich erfolgreichen Show-Ding suchen.

Formatierung ist nicht alles

Nicht nur in der Unterhaltung, auch in der Sparte Information ist bei den großen privatwirtschaftlichen Anbietern viel in Bewegung. Vieles wird spontaner, häufiger live. Als im August der Regenwald brannte, unterbrach ProSieben das Primetime-Programm für ein „Brennpunkt“-ähnliches Spezial. Und wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass RTL am streng formatierten Nachmittag (und im Live-Stream auf RTL.de) plötzlich zu einer Pressekonferenz von Horst Seehofer schaltet und damit auch noch 15 Prozent Marktanteil erreicht? Oder der Brand von Notre Dame: Die Kölner reagierten als erste auf diese Breaking News mit einer Sonderstrecke, während sich Das Erste zierte. „Gaffer TV machen wir auch nicht“, twitterte ARD-Chefredakteur Rainald Becker im April und machte den öffentlich-rechtlichen Lapsus nur noch schlimmer.

Inzwischen verhält sich die ARD anders und überlegt für vergleichbare Situationen eine „schnellere Vernetzung“ über das gesamte ARD-System und alle Ausspielwege. Das schließt auch die eigenen Mediatheken ein, die in der Verwertungskette von öffentlich-rechtlichem Content eine immer größere Rolle spielen. Der Anfang Mai in Kraft getretene 22. Rundfunkstaatsvertrag erlaubt es ARD und ZDF, ihr nicht-lineares Angebot auszubauen – und damit in der Online-Welt den Anschluss an jenes Smartphone-Publikum nicht zu verpassen, das mit dem klassischen Fernsehen gar nichts am Hut hat, weil es mit Youtube und Netflix aufwächst. Deshalb wird in beiden Anstalten laut über Online-Only-Angebote nachgedacht. Bei der ARD werden dafür schon mal Mittel umgeschichtet. Und vom ZDF, das sich damit brüstet, jedes Jahr zwei Milliarden Euro für Programm auszugeben, das nur für den deutschen Markt bestimmt sei, ist schon konkret der Plan für Dokumentationen bekannt, die als erstes in der ZDF-Mediathek „gesendet“ werden.

Renaissance als Kulturgut?

Online First – das gilt auch bei den privatwirtschaftlichen TV-Programmanbietern. Sowohl die Mediengruppe RTL als auch die ProSiebenSat.1 Media AG investieren derzeit kräftig in ihre kostenpflichtigen, dafür (fast) werbefreien Video-on-Demand-Plattformen. Wer nicht abwarten kann, wem die „Bachelorette“ (RTL) ihre letzte Rose gibt, findet auf TV Now die exklusive Preview. Mit dem Joint-Venture Joyn bringt sich wiederum ProSiebenSat.1 gemeinsam mit Discovery in Position gegen die Global Player. Auch Apple, Disney und AT&T (Warner) drängen jetzt in den boomenden Markt für Fernsehen im Internet. Damit lässt sich Geld verdienen. Und im besten Fall erlebt TV, ob linear oder non-linear, eine Renaissance als Kulturgut.

Illustration: rosepistola.de
Porträt Senta Krasser: Enric Mannen

Bild Senta Krasser
Senta Krasser schreibt frei über Medien; früher in der Süddeutschen Zeitung, heute für medium magazin, Medienkorrespondenz und andere. Seit 2006 durchforstet sie das Fernsehprogramm für den Grimme-Preis.
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