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Vielfalt, Videos und Tele-Visionen
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Vielfalt, Videos und Tele-Visionen

Das klassische Fernsehen verliert beim jungen Publikum an Bedeutung, im Internet erleben Streaming-Angebote einen Boom, und auf vielen Endgeräten sind die Welten von TV und Online-Videos nur noch einen Tastendruck voneinander entfernt. Die Konvergenz digitaler Medien löst alte Grenzen auf. Wie sehen die Tele-Visionen der Zukunft aus? Brauchen wir noch klassisches Fernsehen? Und welche Rolle spielt Video on Demand?

Text Matthias Kurp

Als um die Jahrtausendwende die Zeitungen an Auflage verloren und vor allem an Reichweite bei den jüngeren Leserinnen und Lesern, beschwichtigten viele Verleger. Sie waren sich sicher, irgendwann werde auch die jüngere Generation ein Zeitungs-Abonnement abschließen. Dies geschehe spätestens dann, so war bei Kongressen und Tagungen zu hören, wenn junge Menschen erst einmal eine Familie gegründet hätten, also „gesettled“ seien. Wer ein eigenes Häuschen gebaut oder mit seiner Familie erst einmal in ein Wohnumfeld mit Kindertagesstätte, Vereinsleben und Nachbarschaftsbeziehungen integriert sei, komme um eine Lokalzeitung nicht herum, so die Hoffnung. Inzwischen wissen wir es besser: Die Zeitungen in Deutschland haben seit dem Jahr 2000 etwa vierzig Prozent ihrer verkauften Auflage verloren, die Werbeerlöse gingen sogar um etwa zwei Drittel zurück. Den Grund für diese Entwicklung haben die Zeitungsverlage längst ausgemacht: Leser und Werbeerlöse wanderten in Richtung Internet. Wer heute wissen will, was in seiner Umgebung geschieht, nutzt statt Zeitungen oft Online-Angebote, erhält lokale Informationen per Facebook oder WhatsApp.

Und das Fernsehen? Vor allem die Free-TV-Branche scheint an einem ähnlichen Wendepunkt angekommen zu sein wie die Zeitungen vor zwanzig Jahren. Der jahrelange Aufschwung ist gebremst: Nach Angaben des Spitzenverbands der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) sind die Netto-Werbeerlöse 2018 im Vergleich zum Vorjahr um 1,2 Prozent auf 4,5 Milliarden Euro gesunken. Auch die Reichweite des klassischen Fernsehens geht zurück, vor allem bei den jüngeren Nutzern. Audiovisueller Medienkonsum bedeutete früher für Kinder vor allem eines: Fernsehen. Wer mit Kinderkanal und Sesamstraße aufgewachsen war, schaute später MTV-Videos oder RTL-Serien. Das ist heute anders. Erste audiovisuelle Medienerfahrungen machen die Jüngeren schon früh per Smartphone oder Tablet: mit Videos auf YouTube, Facebook-Filmchen, Instagram Stories, twitch.tv oder YouNow und natürlich auch mit den Streaming-Diensten Netflix oder Amazon Prime. Schauten Kinder im Alter zwischen 3 und 13 Jahren vor zwanzig Jahren pro Tag noch knapp hundert TV-Minuten, beträgt ihre Sehdauer heute täglich nur noch etwa eine Stunde, und die TV-Reichweite dieser Zielgruppe ging von 62 Prozent im Jahr 2000 auf 44 Prozent im vergangenen Jahr zurück. So lautet eine alarmierende Bilanz der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF).

Stagnierende TV-Nutzung

Aus den Daten der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) geht hervor, dass zwischen 2007 und 2018 die tägliche TV-Sehdauer bei den 14- bis 29-Jährigen von 133 auf 94 Minuten gesunken ist. Gestiegen ist in diesem Zeitraum nur die Fernsehnutzung der Nutzer im Alter von mehr als 50 Jahren, die täglich noch immer mehr als fünf Stunden TV-Programme schauen. Für die Vermarktung der Fernsehwerbung wird diese Entwicklung zunehmend zum Problem: Schließlich wenden sich die meisten der Free-TV-Programme vor allem an die werberelevante Zielgruppe der 15- bis 49-Jährigen. Doch für diese schwindet die Faszination Fernsehen, während die Video-on-Demand-Welt des Internets immer verlockender wird: Dass im vergangenen Jahr laut ARD/ZDF-Onlinestudie die tägliche Internet-Nutzungsdauer im Vergleich zum Vorjahr um fast ein Drittel auf 196 Minuten gestiegen ist, wird vor allem der wachsenden Beliebtheit von Video-Streaming zugeschrieben.

Grafik TV Sehdauer

Aus Sicht der jungen Nutzer sind Bewegtbild-Medien immer häufiger Online-Videos. Ob sich das wieder ändert? Die Erfahrungen der Zeitungsbranche zeigen, wie wichtig es ist, sich nicht darauf zu verlassen, dass mit dem Alter der Nutzer auch der TV-Konsum wieder steigen wird. Vielmehr drohen dauerhafte Bindungsverluste, wenn Fernsehzuschauer sich erst einmal daran gewöhnt haben, online ortsunabhängig und zeitsouverän ein riesiges Angebot an Serien, Spielfilmen und Dokumentationen nutzen zu können.

Die Ausdifferenzierung der Lebensstile und das große Spektrum von audiovisuellen Angeboten im Internet haben zu einer Fragmentierung des Publikums geführt. Als Folge nimmt die individuelle und zeitunabhängige Nutzung von Bewegtbildangeboten zu: Immer mehr Zuschauer wollen selbst bestimmen, was sie wie, wann und wo sehen, und zwar unabhängig vom Bildschirm im heimischen Wohnzimmer. Während klassische Fernsehprogramme spezielle Endgeräte benötigen, die Rundfunksignale via Terrestrik, Kabel oder Satellit empfangen, kann alles, was per Internet transportiert wird, inzwischen mit Smartphones, Tablets, Notebooks, Spielekonsolen oder anderen Online-Endgeräten abgespielt werden.

Mediatheken und Streaming

Bestand die Internetstrategie der Zeitungsverlage lange vor allem darin, Print-Inhalte parallel auch online zu präsentieren und auf zusätzliche Werbeerlöse zu hoffen, hat die TV-Branche mehr Optionen. Erstens wird das Erlebnis Fernsehen dank neuer Technologien wie HD-, 3D- oder UHD-TV (siehe Artikel UHD als Nonplusultra?) in seiner Bild- und Tonqualität sukzessive verbessert. Zweitens können moderne Smart-TV-Geräte die Welten von Fernsehen und Internet auf intelligente Art miteinander verbinden (siehe Artikel HbbTV erobert smart den Massenmarkt). Drittens lässt sich die Wertschöpfungskette des klassischen Fernsehens durch Mediatheken und Streaming-Angebote in die Online-Sphäre verlängern. Allein die ZDF-Mediathek bietet nach eigenen Angaben etwa 30.000 Videos. Zum Vergleich: Netflix hatte im vergangenen Jahr in den USA nur etwa 4.100 Filme und 1.700 Serien zu bieten.

Bei dem Versuch, Free-TV-Inhalte auch im Internet zu monetarisieren, verfolgen die beiden großen deutschen Senderfamilien zurzeit unterschiedliche Ansätze. Die RTL Group setzt mit ihrem Streaming-Angebot TV Now auf eine Mischung aus kostenfreiem, werbefinanziertem Video on Demand (VoD) und einem Bezahlmodell. Kostenfrei sind beim hybriden Geschäftskonzept von RTL Now alle Inhalte, die auch in den Mediatheken der einzelnen Sender gratis veröffentlicht werden. Wer aber in den Genuss von HD-Qualität oder von weiteren Inhalten und Live-Streams kommen will, der muss das Premium-Paket wählen. Dazu gehören für 4,99 Euro pro Monat auch Vorab-Ausstrahlungen, ein Archiv, exklusive Inhalte und Videos der Pay-TV-Programme. Für die Vermarktung kurzformatiger Videos aus dem Online-Bereich hat die RTL Group ihr Geschäft mit den Multi-Plattform-Netzwerken europaweit unter dem Dach von Divimove gebündelt.

Online-Plattformen für TV-Programme

Die RTL Group versucht, ihr werbefinanziertes Free-TV-Kerngeschäft möglichst nicht durch Streaming-Angebote zu kannibalisieren. Deshalb wird nur ein Teil der Programme als sogenanntes Catch-up-TV online auch gratis angeboten und deshalb werden selbst bei der Premium-Variante von TV Now Werbespots gezeigt. Alle Inhalte stammen aus der RTL-Familie oder wurden als zusätzliche US-Serien eingekauft. Das Streaming-Geschäftsmodell der ProSiebenSat.1-Gruppe sieht anders aus, weil es auch Inhalte fremder Anbieter einbindet. Gemeinsam mit Discovery (u.a. Eurosport) wurde im Sommer die neue Plattform Joyn gestartet. Sie bündelt unterschiedliche Mediatheken einzelner TV-Programme und Themen-Kanäle sowie exklusive Inhalte. Zum Gratis-Angebot, das über Werbung finanziert wird, gehören derzeit Inhalte aus unterschiedlichen Mediatheken, mehr als fünfzig Live-Streams, exklusive Original-Serien sowie Themen-Kanäle. Das Material stammt nicht nur von den ProSiebenSat.1-Programmen, sondern auch von ARD und ZDF, Arte, Sport1, Welt oder DMAX. Zusätzlich zur Gratis-Variante planen die Joyn-Manager bereits eine kostenpflichtige Premium-Version.

Fernsehen ist, so zeigen die Beispiele TV Now und Joyn, längst fast überall auch online verfügbar. Die Plattformen können per Internet-Browser und Smart-TV-Gerät, aber auch per App für iOS- oder Android-Smartphones genutzt werden. Damit erschließen sich die TV-Programmanbieter Formen der Werbevermarktung, die sie sonst nicht anbieten können. Weil im Internet auf der Basis von Nutzerprofilen Werbung personalisierbar adressiert werden kann (Addressable TV), entstehen dort kaum Streuverluste. Das Medium Fernsehen hingegen ermöglicht nur recht undifferenzierte Reichweiten, bedeutet für Werbung also höhere Streuverluste und schlechte Messbarkeit. Und die Ausspielung von Video-Inhalten per Internet hat noch einen zweiten Vorteil: Ähnlich wie bei Netflix lässt sich aus der Nutzung minutiös ablesen, wann das Anschauen einzelner Videos unterbrochen oder gar abgebrochen wird und wer welche Vorlieben hat.

Wachsende Zahlungsbereitschaft

Zurzeit versuchen fast alle TV-Programmplaner eine Ausweitung des Angebotes ihrer Mediatheken zu realisieren. Dazu gehört auch, Serien und Filme schon vor der TV-Ausstrahlung online zu stellen (Pre-TV). Am 11. Mai 2019 hat das ZDF erstmals eine Sendung des Aktuellen Sportstudios zunächst live im Internet und erst anschließend im Fernsehen gezeigt. Für Besitzer von Smart-TV-Geräten liegen die Welten von Internet und Rundfunk ohnehin nur noch einen Tastendruck voneinander entfernt. Die rechtliche Differenzierung zwischen linearen und non-linearen Inhalten spielt für die Nutzer praktisch keine Rolle. Ähnliches gilt auch für den Unterschied zwischen Free-TV- und Pay-TV-Angeboten. Konsequent hat deshalb auch Pay-TV-Anbieter Sky mit Sky Q ein Angebot geschaffen, das Kunden sowohl Zugang zu linearen Free-TV-Kanälen ermöglicht als auch zu Pay-TV-Inhalten und zu einem großen VoD-Angebot. Zusätzlich soll Sky Ticket als monatlich kündbares Streaming-Angebot Netflix & Co. Konkurrenz machen.

Die monatlich kündbaren Abo-Modelle von Netflix und Amazon haben dazu geführt, dass die Zahlungsbereitschaft der Kunden gewachsen ist. Nach Angaben des Verbandes privater Medien (Vaunet) betrug der Umsatz des Geschäftes mit Pay-TV und Paid-Video-on-Demand 2018 in Deutschland etwa 3,5 Milliarden Euro und damit eine halbe Milliarde Euro mehr als im Jahr zuvor. Die Vaunet-Experten rechnen für 2019 mit einem erneuten Plus um etwa eine halbe Milliarde Euro. Allein die RTL Group hat angekündigt, in den kommenden drei Jahren 350 Millionen Euro in den Streaming-Sektor zu investieren. ProSiebenSat.1 gab bekannt, der Start von Joyn koste bis zu 50 Millionen Euro, 120 Millionen Euro würden zusätzlich für deutschsprachige TV-Produktionen ausgegeben.

Millennials bevorzugen Streaming

Dass die Vaunet-Zahlen für das vergangene Jahr beim Pay-TV in Deutschland insgesamt nur einen Zuwachs um etwa 100.000 Kunden auf 7,8 Millionen ausweisen, zeigt, wie schwierig es ist, langfristige Abonnement-Verträge abzuschließen. Trotz eines Angebotes von 108 Pay-TV-Programmen (Vaunet-Recherche für Juli 2019) scheuen sich in Deutschland viele Kunden – abgesehen von Fußball-Fans, die das Paket Sky Bundesliga abonniert haben – davor, Jahresverträge abzuschließen. Größer ist die Zahlungsbereitschaft bei On-Demand-Plattformen wie Amazon Prime (7,99 €/Monat), Netflix (Basisticket: 7,99 €/Monat) oder Sky Ticket (ab 9,99 €/Monat), deren monatliche Mitgliedschaft jederzeit gekündigt werden kann. Solche Tarifmodelle stoßen vor allem beim jüngeren Publikum auf große Resonanz.

Bereits im Frühjahr gaben bei einer Yougov-Umfrage etwa siebzig Prozent der sogenannten Millennials, also der 14- bis 34-Jährigen, an, mindestens ein Streaming-Abo abgeschlossen zu haben. Etwa die Hälfte dieser Verträge entfiel nach Angaben der Befragten auf Netflix, etwas mehr als ein Drittel auf Amazon. In der Gruppe der über 35-Jährigen meldete jeder Fünfte ein Netflix-Abo und jeder Vierte ein Prime-Abo. Außer Netflix und Amazon gibt es weitere Streaming-Akteure im Markt, zum Beispiel DAZN (Sport), Pantaflix oder LaCinetek (beide Filme). Voraussichtlich im November wird mit Apple TV+ ein Global Player starten, der 900 Millionen iPhone-Nutzer erreicht. Dessen neuer VoD-Dienst soll mit selbstproduzierten Formaten, Filmen und Dokumentationen reüssieren. Außerdem hat auch Disney angekündigt, im November einen neuen Over-the-top-Dienst namens Disney+ zu launchen, der Onlinevideothek und VoD-Service bieten soll. Angesichts seines riesigen Repertoires an Hollywood-Klassikern dürfte Disney für Marktführer Netflix schnell zum mächtigen Konkurrenten werden.

Netzwerkeffekte für VoD-Markt

Und die Nutzer? Werden sie in Zukunft zusätzlich zum Netflix- oder Amazon-Abo Geld für weitere Anbieter ausgeben? Werden Sie noch mehr Serien schauen und noch anfälliger für Binge Watching (engl. binge = Gelage) werden? Branchen-Experten warnen bereits vor einem „Content Overflow“. Wie in jeder jungen Wirtschaftsbranche ist auch für den Wettbewerb der Streaming-Anbieter nach dem Boom mit einer Konsolidierungsphase zu rechnen. Noch aber streben alle Anbieter nach dem Netzwerkeffekt, der sich daraus ergibt, dass der Wert eines Wirtschaftsgutes mit steigender Nutzerzahl exponentiell zunimmt. Anders als beim Fernsehen, wo es in einigen Nischen genügend Spielraum für das Überleben von Spartenprogrammen gibt, lautet die schlichte Formel der Internetökonomie „The winner takes it all“. Deshalb wird am Ende ein Marktführer den Wettbewerb dominieren, wird andere verdrängen und nach dem Monopol streben: Google, Amazon und Facebook sind Beispiele für diese Mechanik des Marktes, die wenig zu tun hat mit dem Ziel, publizistische Vielfalt zu schaffen und zu erhalten.

Der Streaming-Markt unterscheidet sich noch in einem weiteren Punkt vom TV-Markt: Video-on-Demand-Anbieter wollen und können gar nicht konkurrieren mit Live-Events, TV-Journalismus, Talk-Formaten, Service-Magazinen oder Shows des linearen Fernsehens. Entscheidend für Netflix und Amazon ist nicht, wie viele Menschen zeitgleich eine Sendung sehen, sondern wie viele Kunden bereit sind, Streaming-Angebote zu abonnieren. Netflix und Amazon Prime bieten deshalb ein ausgefeiltes Serien-Storytelling mit vielen Handlungssträngen, horizontalen Erzählstrukturen und kontroversen Themen. Ziel ist es, Teilpublika intellektuell zu fordern und zu binden. Für ein Massenpublikum sind die meisten Streaming-Serien kaum geeignet. Aber: Wer eine bestimmte Netflix-Serie gesehen hat, dem schlägt der Algorithmus des US-Unternehmens ständig neue Serien ähnlicher Sujets vor. Das hat mit Vielfalt wenig zu tun, jedoch eine Menge mit wirtschaftlichem Kalkül.

Kampf um Aufmerksamkeit und Zeitbudget

Trotz vieler Unterschiede treffen TV-Programmanbieter und Streaming-Dienste im Wettbewerb an einem Punkt unmittelbar aufeinander: Sie kämpfen um die Aufmerksamkeit und das Zeitbudget der Zuschauer. Daten der repräsentativen Studie Screens in Motion, die TV Spielfilm (Burda) gemeinsam mit der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) realisiert hat, belegen, dass die Gesamtnutzungsdauer im Bewegtbildsektor stagniert. 2019 schauten die Rezipienten in Deutschland – trotz des immer größer werdenden Angebotes – mit vier Stunden und 17 Minuten täglich nur zwei Minuten mehr Online-Videos oder TV-Sendungen als im Jahr zuvor. Um Bewegtbild-Inhalte zu nutzen, setzen die Zuschauer im Durchschnitt 3,5 unterschiedliche Geräte ein. Meistgenutzter Bildschirm bleibt der TV-Monitor (93 %), gefolgt von Computer (80 %) und Smartphone (73 %). In immer mehr Haushalten werden Online-Bilder per TV-Stick auf andere Fernsehschirme übertragen. 31 Prozent der Befragten gaben bei der GfK-Umfrage an, zu diesem Zweck die Systeme von Amazon Fire, Google Chromecast oder Apple einzusetzen.

Grafik Gerätenutzung Bewegtbild-Angebote

Auf die intelligente Verbindung zwischen klassischem Fernsehen und Internet setzen auch Over-the-Top-Anbieter wie Zattoo sowie IPTV-Unternehmen wie MagentaTV oder waipu.tv. Sie bündeln TV-Programme und verbreiten sie live online. So bietet etwa waipu.tv, die Plattform der Münchner Exaring AG, über das Internetprotokoll eine Lösung für Live-Fernsehen und Abrufdienste. Beides kann entweder direkt auf Smart-TV-Geräten, mit Smartphone bzw. Tablet oder per PC bzw. Laptop genutzt werden. Außer kostenpflichtige Senderpakete (4,99 € oder 9,99 €/Monat) können Zuschauer auch ein kostenloses Angebot (40 TV-Programme) ohne zusätzliche Werbeeinspielungen nutzen. Mit Hilfe von waipu.tv soll künftig auch die Reichweite der lokalen Fernsehprogramme in Bayern verbessert werden. Im Rahmen eines von der BLM geförderten Projektes ist der Kanal „TV Bayern Regional“ geplant. Dabei wird je nach Verbreitungsgebiet automatisch zunächst das geografisch passende Lokalprogramm gezeigt. Ergänzend können von den Lokal-TV-Redaktionen Programmbeiträge für die Mediathek zugeliefert werden.

Technologische Optionen

Projekte wie das von waipu.tv gibt es viele. Noch ist nicht klar, wie sehr Internet und Streaming das klassische Fernsehen verändern werden. Einige Trends der Bewegtbild-Branche aber zeichnen sich ab: Alle Angebote müssen einfach bedienbar, Inhalte auf möglichst vielen Geräten und Plattformen abspielbar und neue Filme, Serien oder Dokumentationen hochwertig und exklusiv sein. Ob das klassische Fernsehen überflüssig wird? Viele Aktionäre scheinen das jedenfalls zu glauben. Schließlich ist der Börsenkurs der RTL Group nur noch halb so hoch wie vor fünf Jahren. Der Wert einer Aktie von ProSiebenSat.1 sank in diesem Zeitraum sogar um mehr als drei Viertel. Bei Netflix hingegen hat sich der Aktienwert seit 2015 vervierfacht. Das Wirtschaftsgut Rundfunk verliert also an (Börsen-)Wert, während der VoD- und Streaming-Markt boomt. Was aber ist mit dem Kulturgut Fernsehen, das außer fiktionalen Inhalten auch aktuelle Publizistik bietet, das zu Bildung und Integration beiträgt, das Partizipation ermöglicht und zentraler Faktor der Meinungsbildung ist?

Kurzer Systemvergleich: Auch wenn viele VoD-Angebote im Internet wie Fernsehen aussehen, handelt es sich dabei nicht um Rundfunk. Entscheidendes Kriterium für Rundfunk ist nämlich, dass Programme gleichzeitig an eine Vielzahl von Empfängern gesendet werden. Vor allem bei aktuellen journalistischen Inhalten ist dies eine zentrale Voraussetzung für die Meinungsbildung in einer Demokratie. Fast alle internetbasierten Dienste hingegen stellen immer nur Punkt-zu-Punkt-Verbindungen dar, die erst zustande kommen, wenn einzelne Nutzer sie abrufen. Deshalb werden Streaming-Portale ordnungspolitisch bislang wie Individualkommunikation behandelt, für die weder unter Vielfaltsgesichtspunkten noch in Bezug auf Werbebeschränkungen Limitierungen gelten. Zugleich begegnen sich aber streng regulierte (lineare) Fernsehprogramme und weitgehend von Auflagen befreite (non-lineare) Streaming-Inhalte immer häufiger auf demselben Bildschirm und kämpfen um dasselbe Zeitbudget zur Mediennutzung. Der neue Medienstaatsvertrag soll in diesem Bereich zu mehr Chancengleichheit führen.

Neuer rechtlicher Rundfunkrahmen

Galten bislang „elektromagnetische Schwingungen“ als zentrales Kennzeichen von Rundfunk, heißt es im aktuellen Medienstaatsvertrag-Entwurf, Rundfunk sei die Verbreitung von Bewegtbild oder Ton „mittels Telekommunikation“. Als weitere Rundfunkmerkmale kommen – wie bisher – Linearität und eine „journalistisch-redaktionelle Gestaltung“ hinzu. Angebote mit „geringer journalistisch-redaktioneller Gestaltung“ sollen hingegen künftig vom Anwendungsbereich ausgeschlossen bleiben, was zum Beispiel für viele YouTube- oder Twitch-Inhalte gelten dürfte. Bewegtbildangebote, „die nur geringe Bedeutung für die individuelle und öffentliche Meinungs­bildung entfalten“, sollen deshalb zulassungsfrei werden (siehe Interview mit Bayerns Medienminister Herrmann). Livestreams brauchen derzeit unter bestimmten Bedingungen noch eine Rundfunkgenehmigung. Künftig sollen Inhalte mit monatlich weniger als 20.000 Nutzern als zulassungsfreier Rundfunk gelten. Außerdem sollen außer Medienplattformen auch Intermediäre wie Google, Youtube oder Facebook rundfunkrechtlich in die Pflicht genommen werden.

Zentrale Ziele des neuen Regelwerks sind Medienvielvielfalt sowie die diskriminierungsfreie Verbreitung und Nutzung von Angeboten für alle Systeme, von denen Bewegtbilder angeboten werden. Die Herausforderung für Medien- und Ordnungspolitik, für Medienmanager und Programmmacher besteht nun darin, das Medium Fernsehen so zu transformieren, dass es publizistisch und wirtschaftlich nicht Opfer eines digitalen Evolutionsprozesses wird. Andernfalls könnte nach dem Zeitungssterben ein Fernsehsterben drohen.

Termine

 MEDIENTAGE MÜNCHEN 2019

Die Medientage München, die vom 23. bis 25. Oktober 2019 unter dem Motto „Next Digital Level. Let’s build the media we want“ im Internationalen Congress Centrum München stattfinden, bieten gleich mehrere Veranstaltungen zum Thema Fernsehen/Video/Bewegtbild an:

Mittwoch, 23. Oktober:

  • 13.30 bis 14.30 Uhr: Was zieht noch im linearen Fernsehen? Programmtrends und -formate
  • 14.45 bis 15.45 Uhr: Wir sind Public Value. Verantwortung in den Privaten Medien.

Donnerstag, 24. Oktober:

  • 10.00 bis 11.10 Uhr: TV-Gipfel: Neu-Ordnung - Der deutsche TV-Markt im Umbruch, im Anschluss: Creating New Value in Media – Was plant KKR?
  • 11.15 bis 12.15 Uhr: Präsentation der Medienanstalten des Digitalisierungsberichts Video 2019
  • 14.45 Uhr: VoD & Streaming Special

Freitag 25. Oktober:

  • 11.10 Uhr: Overkill Streaming-Plattformen? Wie man mit Live, dem richtigen Storytelling und Analytics seine Zielgruppen erreicht

Fotos: unsplash.com_Muhd Asyraaf, Thibault Penin 
Grafik: Illizium/Shutterstock.com
Infografik: rosepistola.de
Porträt Matthias Kurp: Uwe Völkner/Fox

Bild Dr. Matthias Kurp

Dr. Matthias Kurp ist Professor im Fachbereich Journalismus/Kommunikation der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. Zuvor arbeitete er freiberuflich als Medienforscher und Fachjournalist.

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