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Neue Anforderungen an das Radio im BLM-Forum diskutiert - Zeitstimmung - Krisenstimmung!?

21.02.2003 | 18 2003
Das Radio muss ganz nah bei den Stimmungen der Menschen sein und die Höhen und Tiefen des Alltags abfedern. Aber was bewegt die Menschen tatsächlich? Und wie kann das Radio darauf eingehen und reagieren? Diesen Fragen näherte sich Dirk Ziems, der Geschäftsführer des Marktforschungsinstituts IFM, beim BLM-Forum "Zeitstimmung - Krisenstimmung!?" - Eine psychologische Sicht auf gesellschaftliche Zeitströmungen und neue Anforderungen an das Radio", das am 20. Februar 2003 von der Bayerischen Landes-zentrale für neue Medien in Kooperation mit Radio 3000 (www.radio3000.de) veranstaltet wurde. Einführend betonte der Präsident der BLM, Prof. Dr. Wolf-Dieter Ring, die ungebrochene Akzeptanz des Massenmediums Radio und appellierte an die Radiomacher, über die spezifischen Stärken des Hörfunks diesem auch als Werbemedium wieder ein stärkeres Gewicht zu verschaffen.

In seiner tiefenpsychologischen Analyse der Zeitstimmung zeigte Dirk Ziems das Spannungsfeld auf, in dem sich die Menschen befinden: Einerseits heißt es Abschied nehmen von "alten verlässlichen Tragfähigkeiten", andererseits fehlen "überzeugende, sinnstiftende Neuausrichtungen". Die Folge ist ein Gefühl, in einem "zähen Übergangszustand versackt" zu sein: Rezession, Arbeitslosigkeit, Bildungs- und Gesundheitsmisere, Verunsicherung durch Terror, Kriegsbedrohung und Klimakatastrophen - und die Radiostationen berichten darüber.
Wie aber reagieren die Menschen auf diese Zeitstimmung? Ziems zeigte sechs Trends auf: Mit Rückzugsgefechten, Clanning und Wellness soll das Alte bewahrt werden, durch Radikalisierung, Führungssehnsucht und Patchwork zu neuen Ufern aufgebrochen werden. Rückzugsgefechte äußern sich zum Beispiel in Aktions-Shopping - die Menschen suchen die billigsten Angebote, begrenzen ihren Konsum, machen zuhause Urlaub. Hier kann das Radio seinen Hörern den Spiegel vorhalten, übersteigerte Verhaltensmuster karikieren und dadurch zum Nachdenken anregen (Bsp.: WSV-Wahn), gleichzeitig aber auch Spartipps, Finanzchecks und ähnliche Hilfestellung bei der Bewältigung des Alltags bieten. Radikalisierungstendenzen entspringen dem Wunsch der Menschen nach dem Aufsprengen von Verkrustungen und einem harten Durchgreifen (Bsp.: drastische Steuersenkungen). Hier kann das Radio ein Ventil liefern, nicht mit "Pöbel-Shows", aber doch zumindest durch die entlarvende Politiker-Satire (Bsp.: Steuer-Song).
Als Clanning bezeichnete Dirk Ziems die Suche der Menschen nach Schutz im Kreis der Clique, Familie und des Netzwerks: Bausparen, Familienfeste und Heiraten sind auf einmal wieder "in". Auch Jugendliche, die sich vermehrt den Anforderungen des Lebens nicht gewachsen fühlen, suchen Zuflucht in hierarchisch geordneten Cliquen, die zum einen die Familien ersetzen, zum anderen die diffuse Führungssehnsucht befriedigen. Radiostationen können dieses Clanning-Bedürfnis durch "Stammesbildung" unter ihren Hörern bedienen (Bsp.: Radio-Clubs), gleichzeitig Romantik und Familienglück durch Programminhalte emotional thematisieren.
Wellness ist "die Antwort auf alles", so Ziems. Die Menschen ziehen sich in diesen schwierigen Zeiten auf die eigenen Befindlichkeiten zurück, genehmigen sich vermehrt Entspannungs- und Wohlfühlmomente. Nach dem Extremsport-Boom der vergangenen Jahre ist nun "kultivierter Stillstand" angesagt: ausgedehnte Bäder, gesundheitsbewusste Ernährung. Gleichzeitig will der Mensch auf nichts verzichten, "alles im Spiel halten und alles zusammenfügen", wie es Ziems formulierte. Die Folge ist die Patchwork-Bildung in den verschiedensten Bereichen, neben der Ernährung (erst Müsli, dann Pommes) betrifft dieser Trend auch die Familien (Kinder aus mehreren Ehen unter einem Dach) oder Stilfragen (antik neben exotisch, edel neben alternativ). Die Aufgabe der Radios sei es, so Ziems, diese "Zeitstimmung - Krisenstimmung" widerzuspiegeln, dem Hörer Hilfestellung zu geben, ihn in seiner Stimmung abzuholen, ihm ganz nah zu sein und dadurch "den Moment rund zu machen". Wie diese Anregungen in der Hörfunk-Praxis umgesetzt werden, darüber diskutierten anschließend Programmverantwortliche der bayerischen Privatradios. Dr. Helge Siemers, Geschäftsführer der Dienstleistungs-gesellschaft für Bayerische Lokal-Radioprogramme (BLR), kontrastierte die nützlichen psychologischen Anregungen mit der wirtschaftlichen Realität des Privatradios: Das Geld reiche meist nicht aus, um erfahrene Moderatoren und Redakteure einzustellen, die die Hörer tatsächlich "abholen" können. Bernt von zur Mühlen, Geschäftsführer von moreUneed aus Luxemburg, beklagte die fehlende Bildung und Ausbildung in den Redaktionen und die zunehmende Abwanderung der "guten und begabten Leute" zum Fernsehen, das in den vergangenen Jahrzehnten zum unbestrittenen Leitmedium in Deutschland geworden sei. Die "VerMainstreamisierung" habe darüber hinaus keine neuen Formate geschaffen und schon gar keine Moderations-Persönlichkeiten hervorgebracht.
Markus Langemann, Geschäftsführer von Klassik Radio, nahm dagegen die Programmleiter in die Pflicht, die ihren Mitarbeitern Freiräume für Kreativität und Experimente schaffen müssten. Auch Lokalstationen könnten sich Moderations-Persönlichkeiten leisten, wenn sie an anderer Stelle Budget einsparen würden. Willi Schreiner, Vorsitzender des Verbands Bayerischer Lokalrundfunk, stellte es jedem Privatsender frei, ein Randgruppenformat abseits des Mainstreams zu senden - der Markt entscheide am Ende über die Zukunft des Programms. Der Geschäftsführer des Funkhauses Regensburg, Gerd Penninger, verwahrte sich gegen die Behauptung einer mangelnden Qualität in den Redaktionen und zeigte anhand von Aktionen bei Radio Charivari und Radio Gong, wie Lokalstationen die aufgezeigten emotionalen und sozialen Trends aufgreifen können: Eine romantische Massenverlobung auf dem Marktplatz wird organisiert, Clubkarten bringen den Hörern geldwerte Vorteile und Kassenzettel werden bei Wiedererkennen rückerstattet. Abschließend forderte Dirk Ziems die Programmmacher auf, ihr altes Selbstbewusstsein, ihre Experimentierfreudigkeit und Risikobereitschaft wiederzuentdecken.