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„Erziehung nicht der Pornoindustrie überlassen“ - Experten geben Anregungen für pädagogische Arbeit

06.10.2010 | 66 2010

Internetpornografie ist in der Lebenswelt von Jugendlichen angekommen. Das zeigten die Forschungsergebnisse und Expertenmeinungen bei der 16. Fachtagung des Forums Medienpädagogik „Voll Porno, Alter!? – Sexualisierte Medieninhalte im Alltag von Jugendlichen“. Pädagogen sind gefordert lautete unisono das Fazit der Referenten in ihrer Bildungsarbeit mit den Jugendlichen das Thema „sexualisierte Medieninhalte“ aufzugreifen und kritisch zu hinterfragen. 

„Wir müssen den jungen Menschen bei der Aufarbeitung extremer Bilder helfen und sie bei ihrer Einordnung unterstützen, um falschen Vorstellungen entgegenzuwirken“, sagte der Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) und Vorsitzende des Forums Medienpädagogik, Prof. Dr. Wolf-Dieter Ring, in seiner Begrüßung. Es sei wichtig, Jugendliche zu sensibilisieren, da Medien oft überzeichnen oder gewisse – nicht direkt ersichtliche – Ziele verfolgten. So wichtig ein medienpädagogischer Ansatz sei, könne er aber kein alleiniges Allheilmittel sein. „Es wird immer einer Aufsichtsinstanz bedürfen, die einen effektiven Jugendmedienschutz gewährleistet“, so Ring.

„Es war noch nie so einfach, an pornografische Medieninhalte zu kommen“, erläuterte die Kommunikationswissenschaftlerin Prof. Dr. Petra Grimm von der Hochschule für Medien Stuttgart. Sie zeigte anhand von Ergebnissen der Studie „Porno im Web 2.0“, dass der Konsum von Pornografie unter Jugendlichen mittlerweile normal und Bestandteil des alltäglichen Medienkonsums – zumindest von männlichen Jugendlichen – ist. Ein Gewöhnungseffekt mit Auswirkungen: Sexualisierte Medieninhalte prägen die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und können ihr Verhalten – auch durch unbewusste Wahrnehmungsvorgänge – verändern. Grimm forderte eine medienpädagogische Offensive, die das Thema Internetpornografie enttabuisiert und Handlungsräume für Medien- und Sexualpädagogen in Schulen schafft. „Wir sollten auf keinen Fall der Pornoindustrie die Erziehung unserer Kinder überlassen“, sagte Grimm.

Einen Trend zur „Pornografisierung“ in der Gesellschaft nimmt auch Verena Weigand, Vorstandsmitglied der Stiftung Medienpädagogik Bayern, wahr. Sie machte auf die Allgegenwart sexualisierter Medieninhalte aufmerksam, angefangen bei aufreizenden Titelfotos von TV-Zeitschriften und klischeehaften Comicfiguren über Porno-Rap und anzüglichen Bemerkungen in Reality-TV-Sendungen bis hin zu Gewaltpornos im Internet. „Medien zeigen einseitige und fragwürdige Geschlechterrollenbilder, die die sexuelle und moralische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen prägen können“, erklärte Weigand: „Unsere Gesellschaft muss sich mit der Frage auseinandersetzen, wie mit dem relativ neuen Phänomen sexualisierter Medieninhalte umzugehen ist.“ Aus medienpädagogischer Perspektive sei eine interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig, um Kindern und Jugendlichen einen kritischen, reflektierten Umgang mit Medien zu vermitteln.

Dafür müssten Pädagogen und Erziehende junge Menschen an den Orten abholen, an denen sie sich aufhielten, beispielsweise auch in den Netzgemeinden des Web 2.0, erläuterte der Sozialpädagoge Sebastian Kempf von pro familia München. Nicht auf technische Perfektion komme es bei diesem Dialog an, sondern darauf, eine möglichst neutrale und wertfreie Haltung zu zeigen ohne zu moralisieren oder aus Scham in Panik zu verfallen. Wer mit Jugendlichen über das Thema Pornografie reden wolle, könne am besten mit ihnen daran arbeiten, die Inszenierungen, Geschlechterrollen und rechtlichen Grundlagen sexualisierter Darstellungen aufzudecken.

Was für Internetangebote gilt, trifft auch für das Handy zu. Hinzu kommt, dass Kinder und Jugendliche mit dem mobilen Alleskönner erotische Fotos und Videos selbst erstellen können (Stichwort „Sexting“). Arnfried Böker, Geschäftsführer der Landesstelle Kinder- und Jugendschutz Sachsen-Anhalt, sprach sich für eine grundsätzliche Thematisierung und Sensibilisierung für Fragen aus, die Kinder und Jugendliche im Umgang mit ihrer Sexualität unsicher machen. Es gäbe ein großes Bedürfnis nach Austausch und Orientierung – manchmal mache sich dies durch direktes Fragen bemerkbar, manchmal durch provokantes Verhalten.

Stereotype Geschlechterbilder und Schönheitsideale beobachtete Michael Gurt vom Institut für Medienpädagogik München in den Programmformaten von MTV und VIVA. Kindern böten die Musiksender kaum Altersgerechtes. So zeige etwa das TV-Format Playboy Mansion ein extrem sexualisiertes und verzerrtes Frauenbild, in der Sendung America´s next Topmodel stünden ausschließlich die körperlichen Reize der Kandidatinnen im Mittelpunkt und Datingshows wie Next oder Date my Mom vermittelten oberflächliche und abwegige Vorstellungen von Liebe und Zweisamkeit. Während es Jugendlichen mit zunehmendem Alter und Medienerfahrung gelinge, Tabubrüche und Provokationen der Reality-Shows richtig einzuordnen, sei das von Kindern kaum zu erwarten. Wenn Korrektive in der Realität fehlen, können die verzerrten medialen Vorgaben ein fragwürdiges Welt- und Menschenbild befördern. Im Hinblick auf die Orientierungsfunktion des Mediums Fernsehen sollten Eltern und Bezugspersonen deshalb für die Problemstellungen sensibilisieren.

Für einen Neuansatz in der Schuldidaktik plädierte der Sprachwissenschaftler Nils Uwe Bahlo: dafür, dass Jugendliche im Unterricht ihre Sprache selbst erklären, reflektieren und kommentieren. Wissenschaftler beobachteten in der Vulgärsprache der jungen Generation weniger einen Verlust sozialen Verhaltens als vielmehr ein Kreativitätspotenzial: Jugendsprache betreibt Identitätsbildung. Früh werden Jugendliche mit einem pornografischen Wortschatz konfrontiert, den sie sich aneignen und umdeuten. Für Erwachsene verletzende Worte müssen innerhalb der Peergroup allerdings nicht unbedingt so gewertet werden.

Wie „krasse Lyrics im Klassenzimmer“ eingesetzt werden können, um die „Sprachlosigkeit in der Schule“ aufzubrechen, demonstrierte der Musiker und Lehrer Murat Güngör. Er integrierte Rap fächerübergreifend in den Unterricht und schaffte es damit, die Schreibkompetenz der Schüler zu stärken und einen kreativen Prozess bei ihnen anzustoßen. Indem Kinder und Jugendliche in den Liedern dabei auch einseitige Rollenbilder dekodieren, setzen sie sich kritisch mit ihrer Lebens- und Medienwelt auseinander.

Die 16. Fachtagung des Forums Medienpädagogik moderierte Helmut Wöckel, Vorsitzender des BLM-Programmausschusses und Vorsitzender der Freien Elternvereinigung in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

>> Kontakt: Cornelia Freund, Tel. (089) 63808-330, cornelia.freund@blm.de