Text Aline-Florence Buttkereit
Immer häufiger werden virtuelle Instrumente neben klassischer Werbung eingesetzt. „VR ist die Revolution im emotionalen Marketing“, behauptet Peter Gocht von Serviceplan. „Der Zuschauer hat keinen Abstand mehr wie bei einem TV-Spot.“ Er vergesse bei dieser neuen Form der Werbung, dass er sich vielleicht im Büro, vielleicht im Wohnzimmer befinde, und erkenne das, was er über die VR-Brille sehe, als seine Realität an. „VR ist eine Empathie-Maschine. Wenn es dann ein schönes emotionales Erlebnis ist, etwas Lustiges oder etwas Aufregendes, dann verbindet man es mit der Marke.“ Mit gutem Storytelling ziehe man den Zuschauer in ein Erlebnis hinein, erklärt Gocht. „Menschen fühlen, nachdem sie die VR-Brille wieder absetzen, dass sie etwas erlebt haben.“
VIRTUELLE TOURISMUS-TOUREN
Kosmetik, Lifestyle, Elektronik oder Fahrzeuge – die Branchen sind vielfältig, in denen Kunden in die virtuelle Welt eintauchen können. Erste Beispiele gibt es sowohl im B2B- als auch im B2C-Bereich. Auch im Tourismus finden sich ständig mehr Anwendungen. Mit der App Ammergau360° kann man beispielsweise die Gegend erleben, als würde man selbst in einer Gondel 1684 Meter hoch auf den Berg Laber fahren. Man kann virtuell auf der Sommerrodelbahn wieder hinunterflitzen oder sich im Kloster Ettal umblicken. Wohin er schaut, bestimmt der Nutzer selbst. Er kann zum Beispiel die Sicht einer Tochter einnehmen, die beim Essen von Knödeln auf der Kolbensattelhütte ihrem Vater gegenübersitzt. Er bittet sie, nach rechts in die Landschaft zu schauen, spießt mit seiner Gabel dabei einen der Knödel auf und freut sich dann diebisch, wenn die Tochter beziehngsweise der Nutzer wieder zu ihm blickt: „Hattest Du nicht noch zwei Knödel“ So kann virtuelle Interaktion gelingen. Noch allerdings handelt es sich um keine wirkliche Interaktion. Denn auch wenn man die ganze Zeit zum virtuellen Vater schaut und sich nicht umdreht, schnappt er sich in dem 360°-Video den Knödel.Die größte Schwierigkeit besteht für Unternehmen und Werbeagenturen momentan darin herauszufinden, wo Virtual Reality im Marketing und Werbebereich nützlich eingesetzt werden kann. „Über die Phase, wo es nur als Gimmick gemacht wird, müssen wir hinwegkommen“, fordert Torsten Biermann, Geschäftsführer von Treffpunkt Idee, einer Agentur, die sich auf AR-Lösungen spezialisiert hat. Kunden diesen Mehrwert bieten zu können, sieht er auch im Bereich der Augmented Reality, also der erweiterten Realität, bei der wie bei Pokémon Go passend zur Wirklichkeit Zusatzinformationen eingeblendet werden. Druckmedien oder Plakatwände, so argumentiert Biermann, hätten nur begrenzten Platz, um alle Botschaften unterzubringen. Über abgedruckte QR-Codes für Smartphones aber ließen sich Zusatzinformationen einblenden. Verhältnismäßig teure und dicke Printkataloge könnten so entfallen. „Natürlich muss der Marketer auch Lust darauf machen, dass man darauf schaut.“ Als gelungenes Beispiel nennt er das Plakat eines Unterwäscheherstellers: Offline zu sehen ist eine Frau mit einem schwarzen Balken auf Brusthöhe. „Wenn man die Frau ohne Balken sehen will, muss man sich die App herunterladen.“ So soll der Medienbruch vom Plakat zur App überwunden werden.
KUNDEN-SERVICE PER AUGMENTED REALITY
Eine der ersten Apps, die mit AR einen Mehrwert boten, stammte im Jahr 2012 vom inzwischen von Apple aufgekauften Münchner Unternehmen Metaio. Mit einer Ikea-App konnte man sich anschauen, wie das ausgewählte Regal oder Sofa ins eigene Wohnzimmer passt. Ähnlich, aber etwas aufwändiger funktioniert auch die App MakeupGenius von L’Oreal: Die Smartphone-Kamera scannt das eigene Gesicht und zeigt, wie verschiedene Eyeliner, Lippenstifte oder Lidschatten einem stehen würden. Und es gibt zahlreiche ähnliche Beispiele: Biermanns Unternehmen etwa hat für den Weltmarktführer von Raufasertapeten eine App entwickelt, mit der man seine Wohnung vor der Kaufentscheidung virtuell tapezieren kann.„AR wird sich vor allem dort durchsetzen, wo es einen echten Mehrwert bietet, zum Beispiel bei einer Bedienungsanleitung direkt am Produkt“, glaubt Biermann. Er könne sich zum Beispiel eine Kaffeemaschine vorstellen, bei der direkt eingeblendet wird, welchen Knopf man drücken muss, um die Maschine zu säubern oder zu entkalken. Audi nutzt dieses System bereits seit Ende 2014 für eine App: Wer sein Smartphone über die verschiedenen Bedienelemente des Fahrzeugs hält, bekommt eine kurze Erklärung, was der jeweilige Knopf bewirkt.
Philippe Wyssen von der Digitalagentur Virtual Identity sieht in Werbung, die nicht nervt, sondern hilft, Möglichkeiten, um auch neue Zielgruppen zu erreichen: „AR, VR und 360° sind als neue technologische Werkzeuge zu verstehen. Sie sollen uns einen Mehrwert im Leben liefern, im besten Fall lösen sie sogar ein Alltagsproblem.“ Die Agentur Virtual Identity entwickelt entsprechende Marketingideen für Business-Kunden. „Die digitale Welt ermöglicht uns, Anwendungen zu entwickeln, die das Nutzenversprechen einer Marke einlösen und der Zielgruppe helfen“, lautet Wyssens Überzeugung. Nervige Markenbotschaften in Form von Bannern kämen nicht an.
KUNDEN SUCHEN NUTZWERTE
Neue Technologien für die Markenkommunikation sinnvoll einzusetzen und Nützliches für die Zielgruppe zu schaffen, ist eine große Herausforderung. Philippe Wyssen hat mit seinem Team deshalb eine Methode entwickelt, wie man zu solchen konkreten Ideen und Anwendungen finden kann. In sogenannten Useful-Brand-Experience-Jams (kurz UBX-Jams) erarbeiten Marketing- und Kommunikations-Experten verschiedener Marken gemeinsam in vier Stunden konkrete Lösungsideen. Eine gute UBX-Anwendung erreiche die Zielgruppe, wenn sie ein (Alltags-)Problem löse, in Verbindung mit der Marke stehe und durch zeitgemäße Technologie fasziniere, betont Wyssen.Allerdings halten nicht alle Marketing-Experten die Zeit schon reif für Virtual Reality. Klaus Eck, Gründer der Content-Marketing-Agentur d.Tales, schätzt, dass es womöglich noch fünf Jahre dauern wird, bis sich Kunden auf VR-Kampagnen einlassen: „Es wird nicht so schnell gehen, wie viele Menschen es erwarten. Die Kunden brauchen länger als die Produzenten von VR-Inhalten.“ Bisher sehe er noch keine überzeugenden Fallbeispiele. Der erste positive Effekt sei beim Verbraucher schnell verpufft. „Und die Plattformen sind noch nicht so verfügbar.“ An einem einheitlichen Web-VR-Standard werde aber gearbeitet, damit man sich nicht pro Anwendung eine eigene App herunterladen müsse, erklärt Torsten Biermann.
ERNÜCHTERUNG NACH DEM HYPE
Um einen Massenmarkt zu erreichen, sind die fehlenden VR-Brillen bei den Konsumenten noch das größte Hindernis. Häufig werden die Inhalte statt mit einem einfachen Cardboard nur mit dem Smartphone angeschaut. Vor allem fehlt es Klaus Eck noch an Inhalten: „Wenn man Gamer ist, wird man reingezogen in eine Handlung. Im Bereich Marketing sind VR-Inhalte nett anzuschauen, aber es mangelt im Gegensatz zu AR noch an Relevanz für den Nutzer.“ Alissia Iljaitsch, Beraterin für digitale Strategien bei IQ Gemini, urteilt, dass sie noch „keine Killer-App“ im Bereich Marketing kenne: „Der erste Wow-Effekt der Technologie ist vorüber. In diesem Jahr beschäftigen wir uns mit der Konzeption von Anwendungen, die Unternehmen und Nutzern echte Mehrwerte bieten und konkrete Problemstellungen am Markt lösen.“Torsten Biermann glaubt, dass immersive Inhalte bereits jetzt wirken. In einem VR-Spiel des Kettensägen-Herstellers Husqvarna für das Head-Mounted Display HTC Vive zersägte er neulich virtuell Baumstämme: „Ich habe mich vorher noch nie mit einer Kettensäge beschäftigt, aber jetzt habe ich den Namen der Firma im Kopf abgespeichert.“
BILD: rose pistola; Francesco Hayez, »Il bacio« (1859), Pinacoteca di Brera –Wikimedia Commons/Public Domain; iStock.com: ET–ART–WORKS, pialhovik