Smartphones, leistungsstarke Computer und Grafikkarten sowie eine neue Generation von Datenbrillen haben im vergangenen Jahr dafür gesorgt, dass das Thema Virtual Reality (VR) zum Medientrend avancierte. Virtuell in Raum und Zeit: Was ist dran am VR-Hype?
TEXT Matthias Kurp
Virtual Reality verspricht, Erfahrungen digital so erlebbar zu machen, als könne man in fremde Welten eintauchen. Dieses Phänomen wird Immersion genannt. Eine Software, ein Smartphone oder ein Computer, eine spezielle Datenbrille – Head-Mounted Display genannt – und eventuell ein Controller reichen aus, um sich in Echtzeit an Orten dreidimensional umsehen und bewegen zu können, die nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun haben. Und dennoch soll sich alles ganz echt anfühlen. VR verspricht neue Dimensionen des Erlebens, bietet zusätzliche Möglichkeiten zum Erzählen erfundener Geschichten oder Vermitteln wahrer Begebenheiten. An die Stelle des Autors oder Erzählers tritt plötzlich der Rezipient selbst, der sich autonom in fremden Welten bewegen kann. So lautet die Vision, die Konzerne wie Google, Facebook oder Samsung dazu bringt, Milliarden-Beträge in die neue Technologie zu investieren.
DATENBRILLEN FÜR EINSTEIGER
Die preislich günstigste Lösung bietet derzeit Google mit der VR-Brille Cardboard. Das Modell ist eine Mischung aus Brillengestell und Papp-Box. Der Bausatz kann innerhalb weniger Minuten so zusammengesteckt werden, dass sich ein Smartphone hineinschieben lässt, das die Rechenleistung übernimmt und als Bildschirm dient. Die Konstruktion besteht nicht nur aus Karton, sondern auch aus Klettverschlüssen und zwei Sammellinsen, welche die Brillengläser ersetzen. Auf die Linsen projizieren Smartphone-Apps dreidimensionale Bilder. Inzwischen bieten mehrere Anbieter solche VR-Brillen aus Pappe an. Kosten pro Exemplar: höchstens 20 Euro. Mit Gratis-Apps, die wie ein Medien-Player funktionieren, lassen sich so per Smartphone für wenig Geld 3D-Videos und virtuelle Bildsequenzen anschauen oder Games spielen.
Wer mehr haben möchte als ein Headset aus Pappe, für den wurde das System Samsung Gear VR entwickelt, das auf der Basis von Samsung-Smartphones funktioniert. Dabei handelt es sich um ein etwa 300 Gramm schweres Kunststoff-Gestell, das einer Taucherbrille ähnelt, in der bestimmte Samsung-Geräte (Galaxy S7, S7 edge, S6, S6 edge und S6 edge+) verankert werden können. So entsteht eine ab etwa 40 Euro erhältliche VR-Videobrille, die vor allem für Games und 360°-Videos interessant ist. Das System erfasst mit Sensoren alle Kopfbewegungen, allerdings nicht den eigenen Standort im Raum. Ein USB-Anschluss verbindet die Gear-VR-Brille mit dem Samsung-Handy. Ist eine spezielle Applikation namens Oculus installiert, öffnet sich dem Betrachter eine VR-Bibliothek mit integriertem App-Store für Spiele und Videos. Ähnlich wie Googles Cardboard eignet sich das Gear-VR-Modell vor allem für Casual Games und 360°-Videos.
INTERAKTIVE VR-SYSTEME
Alle Head-Mounted Displays, die auf der Basis von Smartphones funktionieren, sind vor allem für virtuelle Spielewelten geeignet, bei denen sich die Akteure nicht allzu sehr aktiv im Raum bewegen müssen. Mehr Immersion benötigt mehr Technik. Dies ist zum Beispiel bei der Sony Playstation VR der Fall. Wer über die Spielkonsole Playstation 4 oder Playstation 4 Pro verfügt, kann das System für etwa 400 Euro mit einer dazu passenden VR-Brille aufrüsten. Deren 5,7-Zoll-OLED-Bildschirm mit 100°-Sichtfeld und einer Taktung von 120 Bildern pro Sekunde erreicht eine immersive Qualität, die durch 3D-Audio-Effekte von im Headset integrierten Lautsprechern unterstützt wird. Konsole und Datenbrille werden per Kabel verbunden. Über eine Prozessoreinheit, die in einem kleinen schwarzen Kästchen steckt, lässt sich außerdem das VR-Bild auch auf einen TV-Monitor übertragen, sodass Zuschauer im Raum das virtuelle Geschehen auf einem großen Bildschirm verfolgen können. Für das sogenannte Tracking, also das Erfassen der Nutzer-Bewegungen im Raum, ist zusätzlich die PlayStation Kamera (ca. 50 Euro) erforderlich.
KOSTENINTENSIVE
DATEN(T)RÄUME
Für etwa 700 Euro bietet Facebooks Datenbrille Oculus Rift samt Touch Controller den Einstieg in virtuelle Daten(t)räume. Voraussetzung ist ein sehr leistungsstarker PC. Der Headtracker ermittelt die jeweilige Ausrichtung der Nutzer im Raum, erlaubt sogar Drehungen um 360 Grad. Bei VR-Spielen wird die jeweilige Figur per Controller gesteuert und die Blickrichtung durch Kopfbewegungen bestimmt. Als Eingabegeräte dienen Fernbedienung und Xbox-One-Controller. Facebook hat bereits einen weiteren Schritt angekündigt: den in die virtuelle Community. Im Oculus-Ökosystem soll es möglich werden, dass Facebook-Mitglieder mit den Avataren ihrer Freunde Kontakt aufnehmen können. Das Ergebnis ist eine Form von Mixed Reality, also die Verbindung zwischen echter und virtueller Realität. Jedes Facebook-Individuum soll also ein virtuelles Ich erhalten und jederzeit zwischen zwei Aggregatzuständen wählen können.
Noch aber scheitert eine autonome Bestimmung über den eigenen Aufenthaltsort im Oculus-Kosmos an viel trivialeren Barrieren. Eine Bewegung der Nutzer im Raum ist nämlich nicht direkt in die virtuelle Welt übertragbar. Eine solche Bewegungsfreiheit bietet hingegen das System HTC Vive. Wer bereit ist, etwa 900 Euro auszugeben und über einen High-End-Rechner verfügt, der kann im Virtuellen nicht nur rezipieren, sondern auch räumlich agieren. Dafür hat HTC ein Virtual-Environment-Set entwickelt. Dazu gehören Headset, Controller, viele Kabel und zwei Bewegungsboxen, die per Lasertechnik Bewegungen der Nutzer im Raum erfassen und in die virtuellen Welten übertragen können. So wird in einem räumlich abgegrenzten Bereich, der etwa 15 Quadratmeter groß ist, die Bewegungstransformation vom Realen ins Virtuelle möglich.
COMPUTER GENERIEREN 3D-KULISSEN
Die Microsoft HoloLens Commercial Suite ist vorerst nur für Entwickler oder Unternehmenskunden bestimmt und kostet knapp 5.500 Euro. Sinnvolle Einsatzfelder gibt es viele: So können etwa Monteure in der Industrie automatisch angezeigt bekommen, welches Teil wie und wo verbaut werden muss. Lagerarbeiter müssen beim Kommissionieren nicht mehr umständlich Listen abarbeiten, sondern können Aufträge und Lagerpositionen einzelner Artikel automatisch per Datenbrille erfahren. Auch Wegbeschreibungen während des Gehens sind kein Hexenwerk mehr. Architekten können Kunden Baupläne demonstrieren, indem sie im HoloLens-Blickfeld den gewünschten Anbau virtuell auf die Wiese neben dem Haus projizieren.
Mixed Reality bedeutet eine Interaktion mit der realen Umwelt, der gleichzeitig Informationen hinzugefügt werden. Wird die Realität auf diese Weise angereichert, ändert sich auch unsere Wahrnehmung derselben. Während Virtual Reality zurzeit vor allem die Wachstumsphantasien der Games-Branche weckt, könnte die Augmented Reality, also die mit Informationen angereicherte Wirklichkeit, unseren kompletten Alltag umformen. Zurzeit arbeiten Epson, Google, CastAR, Vuzix, Carl Zeiss und andere Unternehmen an AR-Brillen. Sie alle hoffen auf Millionen-Umsätze: Wer braucht noch eine Bedienungsanleitung oder ein Benutzerhandbuch, wenn ihm eine Datenbrille synchron zur Handhabung neuer Geräte die jeweils erforderlichen Bedienungsschritte einblendet? Könnten Chirurgen nicht präziser operieren, wenn ihnen bei komplexen Eingriffen jeder Operationsschritt auf dem Display ihres Head-Mounted Displays detailliert angezeigt wird? Wäre es auch für Laien möglich, ein Auto zu reparieren, wenn ihnen AR-Technologie assistieren würde? Ist das alles bald Realität oder lediglich Science Fiction?
VIRTUELLE EMPATHIE-MASCHINE
Der Filmemacher Chris Milk zeigte mit seinem 360°-Film „Clouds over Sidra“ das Leben im jordanischen Flüchtlingscamp Zaatri aus der Perspektive eines 12-jährigen syrischen Mädchens. Wer den Film mit einem Head-Mounted Display anschaut, sieht die Welt mit Sidras Augen, als säße er direkt neben ihr im Flüchtlingslager. Die VR-Dokumentation wurde im Auftrag der Vereinten Nationen realisiert. Die UNO setzt auf solche Produktionen, um Geld für die Betreuung von Opfern des Syrienkonfliktes zu sammeln. Die Zahl der Spender soll sich dadurch verdoppelt haben. Im UN-Film „Waves of Grace“ wird virtuell ein Ausschnitt aus dem Leben einer jungen Frau in Afrika dokumentiert, die eine Ebola-Erkrankung überwunden hat. Der Zuschauer ist plötzlich mitten im Geschehen, kann miterleben, wie UN-Mitarbeiter versuchen, die Folgen des Ebola-Virus einzudämmen. Kein Wunder, dass Regisseur Chris Milk davon spricht, VR-Projekte seien „Empathie-Maschinen“. Immersion, so wird deutlich, ist mehr als nur ein Spiel mit der menschlichen Wahrnehmung.
ORIENTIERUNGSPROBLEME MIT 360°-OPTIK
Für das 360°-Filmen müssen alle Kameras exakt synchronisiert und bei der Nachbearbeitung Belichtungsunterschiede ausgeglichen werden. Zu den technischen Herausforderungen kommen bei der 360°-Optik noch inhaltliche hinzu. Das größte Problem besteht darin, die einzelnen Sequenzen so aufzubereiten, dass Zuschauer die Szenerie selbst entdecken können, zugleich aber die Aufmerksamkeit immer auf die wesentlichen Dinge gelenkt wird. Storyboard und Storytelling müssen also so konzipiert sein, dass das Publikum dem Geschehen auch dann folgen kann, wenn es sich selbst orientieren muss. Daraus resultieren zwei zentrale Fragen. Erstens: Wie müssen Protagonisten im Raum agieren, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Rezipient seinen Fokus auf Bild-Elemente außerhalb der eigentlichen Handlung legt? Und zweitens: Lässt sich der Blick der Zuschauer steuern? Einige Regisseure versuchen inzwischen, mit akustischen Mitteln die Aufmerksamkeit zu lenken. Auch der Rhythmus der Bildschnitte und Kameraschwenks wird zum Problem, wenn jede Kopfbewegung mit Datenbrille im Grunde selbst wie ein Schwenk wirkt. Schnelle Schnittfolgen könnten deshalb nicht nur den menschlichen Wahrnehmungsapparat überfordern, sondern auch Schwindelgefühle erzeugen.
ERLÖSUNGSPHANTASIEN UND HORRORSZENARIEN
Löst eine Technologie die Grenzen zwischen Realität und virtueller Realität auf, weil sich im Bewusstsein der Nutzer eine Mischung aus beiden Bereichen manifestiert, entsteht ein großer Spielraum zum Philosophieren und Spekulieren über potenzielle Wirkungen. Der Begriff der virtuellen Realität löst als Oxymoron gleichermaßen Erlösungsphantasien wie Horrorszenarien aus. VR-Enthusiasten versprechen nicht weniger als die Möglichkeit, sich dank der 360°-Perspektive immer das ganze Bild machen zu können. Kulturkritiker warnen hingegen vor einer Hyperrealität, die Wirklichkeit nur simuliere. Irgendwie erinnern solche Diskussionen ein bisschen auch an die Debatten, die vor fast 200 Jahren anlässlich der ersten Eisenbahnen geführt wurden. Kritiker, so lautet eine umstrittene Behauptung, sollen damals „unfehlbar schwere Gehirnerkrankungen“ vorausgesagt haben. Und was machten die Menschen? Sie nutzten die neue Technologie einfach.
Virtual Reality
Als Virtual Reality (VR) wird eine computergenerierte Wirklichkeit mit Bewegtbild (3D) und in vielen Fällen auch mit Ton bezeichnet. Entsprechende Angebote können mit speziellen Headsets (Head-Mounted Displays) genutzt werden. Dabei bilden Datenbrillen 3D-Bilder ab. Menschliche Bewegungen von Kopf und Körper werden durch spezielle Sensoren erfasst (Tracking), sodass Nutzer mit und in der virtuellen Umgebung auch interagieren können. Das Eintauchen in digital erzeugte virtuelle Welten wird als Immersion bezeichnet.
Mixed Reality
Wird virtuelle Realität mit der echten Wirklichkeit gekoppelt, handelt es sich um Mixed Reality. Das ist der Fall, wenn technische Hilfsmittel wie etwa Smartphones oder Datenbrillen Informationen über Elemente unserer Lebensumwelt bieten, die sonst nicht erkennbar sind. Die computergestützte Erweiterung der Wahrnehmung von Wirklichkeit wird auch als Augmented Reality bezeichnet.
360°-Videos
Moderne Kamerasysteme können Bilder aus allen Richtungen sowohl horizontal als auch vertikal in einem Bereich von 360 Grad aufnehmen. Für den Betrachter, der schließlich selbst die Perspektive wählen kann, entsteht ein dreidimensionales Raumgefühl. Zur virtuellen Realität werden so erzeugte Bilder der Wirklichkeit, wenn Menschen sich mit Hilfe von Datenbrillen direkt in diese gefilmten Welten hineinbegeben können.
VR-Systeme im Vergleich | |||
PlayStation VR | Oculus Rift | HTC Vive | |
Display | OLED / 5,7 Zoll | OLED / 5,7 Zoll | OLED / 5,7 Zoll |
Auflösung | 1920x1080 (960 x1080 pro Auge) |
2160x1200 (1080x1200 pro Auge) |
2160x1200 (1080x1200 pro Auge) |
Sichtfeld | 100 Grad | 110 Grad | 110 Grad |
Bildfrequenz | 120 Hz, 90 Hz | 90 Hz | 90 Hz |
Tracking | PlayStation Kamera | CMOS Sensor | Laser-Positionsmesser „Lighthouse“ |
Controller | Dualshock 4, PS Move (optional) | Xbox-One-Controller, Oculus Touch (optional) | Steam VR Controller |
Anschlüsse | HDMI/USB | HDMI/USB | HDMI/USB |
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