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Hype und Hyperrealität
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Hype und Hyperrealität

Smartphones, leistungsstarke Computer und Grafikkarten sowie eine neue Generation von Datenbrillen haben im vergangenen Jahr dafür gesorgt, dass das Thema Virtual Reality (VR) zum Medientrend avancierte. Virtuell in Raum und Zeit: Was ist dran am VR-Hype?
TEXT Matthias Kurp

Damien Francis Broderick ist ein australischer Autor, der seine Dissertation über vergleichende Semiotik in wissenschaftlicher, literarischer und Science-Fiction-Textualität verfasste. Broderick, heute 73 Jahre alt, hat eine Reihe populärwissenschaftliche Werke geschrieben, aber auch Science-Fiction-Bücher. 1982 erschien sein Fantasy-Epos „The Judas Mandala“. Der Roman gilt nicht unbedingt als Klassiker im Kanon der Weltliteratur. Dennoch legte er mit nur einem Begriff das Fundament für visionäre Szenarien und für ein Stück digitale Mediengeschichte. Der versierte Homo Digitalis ahnt es natürlich bereits: Es handelt sich um den Begriff Virtual Reality. Eigentlich ist dieses Schlagwort ein Oxymoron, also ein rhetorisches Konstrukt, das aus zwei sich gegenseitig ausschließenden Begriffen besteht. Schließlich bedeutet virtuell so viel wie „dem Anschein nach“ und Realität ist eben real, also manifest. Ein Widerspruch? Dazu später mehr.

Virtual Reality verspricht, Erfahrungen digital so erlebbar zu machen, als könne man in fremde Welten eintauchen. Dieses Phänomen wird Immersion genannt. Eine Software, ein Smartphone oder ein Computer, eine spezielle Datenbrille – Head-Mounted Display genannt – und eventuell ein Controller reichen aus, um sich in Echtzeit an Orten dreidimensional umsehen und bewegen zu können, die nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun haben. Und dennoch soll sich alles ganz echt anfühlen. VR verspricht neue Dimensionen des Erlebens, bietet zusätzliche Möglichkeiten zum Erzählen erfundener Geschichten oder Vermitteln wahrer Begebenheiten. An die Stelle des Autors oder Erzählers tritt plötzlich der Rezipient selbst, der sich autonom in fremden Welten bewegen kann. So lautet die Vision, die Konzerne wie Google, Facebook oder Samsung dazu bringt, Milliarden-Beträge in die neue Technologie zu investieren.
Mädchen und Opa, beide mit VR-Brillen, Magazin Tendenz der BLM

DATENBRILLEN FÜR EINSTEIGER

Vorläufer der heutigen Datenbrillen gab es schon vor mehr als zwei Jahrzehnten, zum Beispiel den Datenhelm Forte VFX1 Headgear. Doch angesichts von ruckelnden, undeutlichen Bildern zeigten sich zunächst nur wenige Kunden bereit, 1.800 Mark in die virtuelle Zukunft zu investieren. Das war 1994. Inzwischen sind die Voraussetzungen ungleich besser und jedes Smartphone verfügt über mehr Rechenkapazität als ein Computer anno 1994. Aber das VR-Grundkonzept der ersten Head-Mounted Displays blieb bis heute erhalten. Hochauflösende Bildschirme und Displays, leistungsfähige Grafikkarten, Prozessoren und Sensoren sollen der VR-Technologie jetzt zum Durchbruch verhelfen. Unternehmensberater von Deloitte schätzen, dass schon in drei Jahren allein in Deutschland mit VR-Hardware und -Software etwa eine Milliarde Euro Umsatz gemacht werden könnte. Voraussetzung dafür sind kostengünstige und leistungsfähige Systeme für den Massenmarkt.

Die preislich günstigste Lösung bietet derzeit Google mit der VR-Brille Cardboard. Das Modell ist eine Mischung aus Brillengestell und Papp-Box. Der Bausatz kann innerhalb weniger Minuten so zusammengesteckt werden, dass sich ein Smartphone hineinschieben lässt, das die Rechenleistung übernimmt und als Bildschirm dient. Die Konstruktion besteht nicht nur aus Karton, sondern auch aus Klettverschlüssen und zwei Sammellinsen, welche die Brillengläser ersetzen. Auf die Linsen projizieren Smartphone-Apps dreidimensionale Bilder. Inzwischen bieten mehrere Anbieter solche VR-Brillen aus Pappe an. Kosten pro Exemplar: höchstens 20 Euro. Mit Gratis-Apps, die wie ein Medien-Player funktionieren, lassen sich so per Smartphone für wenig Geld 3D-Videos und virtuelle Bildsequenzen anschauen oder Games spielen.

Wer mehr haben möchte als ein Headset aus Pappe, für den wurde das System Samsung Gear VR entwickelt, das auf der Basis von Samsung-Smartphones funktioniert. Dabei handelt es sich um ein etwa 300 Gramm schweres Kunststoff-Gestell, das einer Taucherbrille ähnelt, in der bestimmte Samsung-Geräte (Galaxy S7, S7 edge, S6, S6 edge und S6 edge+) verankert werden können. So entsteht eine ab etwa 40 Euro erhältliche VR-Videobrille, die vor allem für Games und 360°-Videos interessant ist. Das System erfasst mit Sensoren alle Kopfbewegungen, allerdings nicht den eigenen Standort im Raum. Ein USB-Anschluss verbindet die Gear-VR-Brille mit dem Samsung-Handy. Ist eine spezielle Applikation namens Oculus installiert, öffnet sich dem Betrachter eine VR-Bibliothek mit integriertem App-Store für Spiele und Videos. Ähnlich wie Googles Cardboard eignet sich das Gear-VR-Modell vor allem für Casual Games und 360°-Videos.

INTERAKTIVE VR-SYSTEME

Wer mehr Immersion, Interaktion und technische VR-Präzision haben will, als dies Cardboard und Gear VR ermöglichen, muss beim Kauf der VR-Hardware ein wenig tiefer in die Tasche greifen. So ist etwa Googles System Daydream View mit einem externen Controller ausgestattet. Das sogenannte View Headset sieht ähnlich aus wie Samsungs VR-Modell, besteht aus atmungsaktivem Stoff und ist für Smartphones verschiedener Hersteller (Google, Motorola, Huawei) geeignet, die bestimmte Kriterien (hochauflösendes Display, starke Grafik-Leistung, Hi-Fi-Sensoren, Android 7.0 Nougat) erfüllen müssen. Das Besondere am Daydream-Konzept ist, dass der Controller es möglich macht – ähnlich wie bei Nintendos Wii-Konsole –, mit den virtuellen Smartphone-Welten zu interagieren. Dabei mutiert das kleine, handliche Controller-Kästchen beispielsweise zum Sport-Racket oder Joystick-Ersatz. Den Zugang zur Virtualität ermöglicht eine App, die als Portal zu einer Reihe von Android-Services fungiert. Dort finden sich Spiele, Filme und Serien, aber auch die Street-View-Applikation. Für Nutzer soll der virtuelle Tagtraum wahr werden, indem sie dank des per Bluetooth mit dem Smartphone verbundenen Controllers in künstlich geschaffenen Sphären (inter)agieren können. Das Eintauchen in fremde Welten wird dadurch begünstigt, dass animierte Bilder, Videos oder Spiele auf dem Display noch realistischer und plastischer wirken als mit 360°-Kameras aufgenommenes Material. Das Headset ist für etwa 70 Euro erhältlich. Hinzu kommen – wie auch bei den Modellen Cardboard und Gear VR – die Kosten für ein geeignetes Smartphone.

Alle Head-Mounted Displays, die auf der Basis von Smartphones funktionieren, sind vor allem für virtuelle Spielewelten geeignet, bei denen sich die Akteure nicht allzu sehr aktiv im Raum bewegen müssen. Mehr Immersion benötigt mehr Technik. Dies ist zum Beispiel bei der Sony Playstation VR der Fall. Wer über die Spielkonsole Playstation 4 oder Playstation 4 Pro verfügt, kann das System für etwa 400 Euro mit einer dazu passenden VR-Brille aufrüsten. Deren 5,7-Zoll-OLED-Bildschirm mit 100°-Sichtfeld und einer Taktung von 120 Bildern pro Sekunde erreicht eine immersive Qualität, die durch 3D-Audio-Effekte von im Headset integrierten Lautsprechern unterstützt wird. Konsole und Datenbrille werden per Kabel verbunden. Über eine Prozessoreinheit, die in einem kleinen schwarzen Kästchen steckt, lässt sich außerdem das VR-Bild auch auf einen TV-Monitor übertragen, sodass Zuschauer im Raum das virtuelle Geschehen auf einem großen Bildschirm verfolgen können. Für das sogenannte Tracking, also das Erfassen der Nutzer-Bewegungen im Raum, ist zusätzlich die PlayStation Kamera (ca. 50 Euro) erforderlich.

KOSTENINTENSIVE
DATEN(T)RÄUME

Von der Brillanz und Schärfe der Bilder (auch an den Bildkanten) hängt ab, wie schnell und intensiv die unterschiedlichen Headsets die Nutzer in den virtuellen Raum hineinversetzen. Noch höhere Bildauflösungen als Sonys Playstation VR bieten derzeit Systeme wie Oculus Rift oder HTC Vive. Experten sprechen von Presence und Experience, wenn es darum geht, virtuelle Szenarien zu schaffen, die wie das echte Leben wirken. Das verspricht Facebooks 3D-Brille Oculus Rift. Facebook zahlte vor zwei Jahren mehr als zwei Milliarden Dollar, um das Unternehmen des VR-Pioniers Palmer Luckey zu übernehmen, und investierte Millionen-Beträge in die Entwicklung eines Massenmarkt-Produktes.

Für etwa 700 Euro bietet Facebooks Datenbrille Oculus Rift samt Touch Controller den Einstieg in virtuelle Daten(t)räume. Voraussetzung ist ein sehr leistungsstarker PC. Der Headtracker ermittelt die jeweilige Ausrichtung der Nutzer im Raum, erlaubt sogar Drehungen um 360 Grad. Bei VR-Spielen wird die jeweilige Figur per Controller gesteuert und die Blickrichtung durch Kopfbewegungen bestimmt. Als Eingabegeräte dienen Fernbedienung und Xbox-One-Controller. Facebook hat bereits einen weiteren Schritt angekündigt: den in die virtuelle Community. Im Oculus-Ökosystem soll es möglich werden, dass Facebook-Mitglieder mit den Avataren ihrer Freunde Kontakt aufnehmen können. Das Ergebnis ist eine Form von Mixed Reality, also die Verbindung zwischen echter und virtueller Realität. Jedes Facebook-Individuum soll also ein virtuelles Ich erhalten und jederzeit zwischen zwei Aggregatzuständen wählen können.

Noch aber scheitert eine autonome Bestimmung über den eigenen Aufenthaltsort im Oculus-Kosmos an viel trivialeren Barrieren. Eine Bewegung der Nutzer im Raum ist nämlich nicht direkt in die virtuelle Welt übertragbar. Eine solche Bewegungsfreiheit bietet hingegen das System HTC Vive. Wer bereit ist, etwa 900 Euro auszugeben und über einen High-End-Rechner verfügt, der kann im Virtuellen nicht nur rezipieren, sondern auch räumlich agieren. Dafür hat HTC ein Virtual-Environment-Set entwickelt. Dazu gehören Headset, Controller, viele Kabel und zwei Bewegungsboxen, die per Lasertechnik Bewegungen der Nutzer im Raum erfassen und in die virtuellen Welten übertragen können. So wird in einem räumlich abgegrenzten Bereich, der etwa 15 Quadratmeter groß ist, die Bewegungstransformation vom Realen ins Virtuelle möglich.

COMPUTER GENERIEREN 3D-KULISSEN

Um sich virtuell an andere Orte teleportieren zu lassen, müssen dafür von Software generierte Kulissen zuvor mit Hunderten von Fotos abgelichtet werden, und zwar jedes Objekt aus mindestens zwei Perspektiven. Anschließend bauen Computerprogramme aus dem Bildmaterial dreidimensionale virtuelle Bühnenbilder. Auch bei den Systemen Oculus Rift oder HTC Vive bleiben die Grenzen zwischen computeranimierter virtueller Realität und der echten Außenwelt recht undurchlässig. Anders ist dies bei Microsofts Mixed-Reality-Brille HoloLens. Das mehr als ein halbes Kilogramm schwere Head-Mounted Display macht Mixed-Reality-Erfahrungen möglich: Plötzlich verschmelzen virtuelle Elemente mit realer Umgebung. Die Datenbrille wird mit Hilfe von Gesten gesteuert. Im Sichtfeld überlagern ein virtuelles Menü-Display oder Computer-Grafiken die Perspektive der Nutzer. Virtuelles und Reales werden kombiniert. Hologramme können frei im dreidimensionalen Raum platziert und bewegt oder App-Spiele auf einer Wand abgebildet werden. Um die künstliche Welt in die echte zu integrieren, stecken im Gehäuse der Datenbrille mehrere Kameras, Mikrofone, ein Umgebungslichtsensor sowie Lagesensoren.

Die Microsoft HoloLens Commercial Suite ist vorerst nur für Entwickler oder Unternehmenskunden bestimmt und kostet knapp 5.500 Euro. Sinnvolle Einsatzfelder gibt es viele: So können etwa Monteure in der Industrie automatisch angezeigt bekommen, welches Teil wie und wo verbaut werden muss. Lagerarbeiter müssen beim Kommissionieren nicht mehr umständlich Listen abarbeiten, sondern können Aufträge und Lagerpositionen einzelner Artikel automatisch per Datenbrille erfahren. Auch Wegbeschreibungen während des Gehens sind kein Hexenwerk mehr. Architekten können Kunden Baupläne demonstrieren, indem sie im HoloLens-Blickfeld den gewünschten Anbau virtuell auf die Wiese neben dem Haus projizieren.

Mixed Reality bedeutet eine Interaktion mit der realen Umwelt, der gleichzeitig Informationen hinzugefügt werden. Wird die Realität auf diese Weise angereichert, ändert sich auch unsere Wahrnehmung derselben. Während Virtual Reality zurzeit vor allem die Wachstumsphantasien der Games-Branche weckt, könnte die Augmented Reality, also die mit Informationen angereicherte Wirklichkeit, unseren kompletten Alltag umformen. Zurzeit arbeiten Epson, Google, CastAR, Vuzix, Carl Zeiss und andere Unternehmen an AR-Brillen. Sie alle hoffen auf Millionen-Umsätze: Wer braucht noch eine Bedienungsanleitung oder ein Benutzerhandbuch, wenn ihm eine Datenbrille synchron zur Handhabung neuer Geräte die jeweils erforderlichen Bedienungsschritte einblendet? Könnten Chirurgen nicht präziser operieren, wenn ihnen bei komplexen Eingriffen jeder Operationsschritt auf dem Display ihres Head-Mounted Displays detailliert angezeigt wird? Wäre es auch für Laien möglich, ein Auto zu reparieren, wenn ihnen AR-Technologie assistieren würde? Ist das alles bald Realität oder lediglich Science Fiction?
Techniker in VR-Umgebung, Magazin Tendenz der BLM

VIRTUELLE EMPATHIE-MASCHINE

Was Virtual Reality und Augmented Reality für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft bedeuten, lässt sich derzeit nur erahnen. Einige kognitive und affektive Effekte aber sind jetzt schon erkennbar. Wer sich mit Hilfe von VR-Technik in andere Welten begeben oder gar in andere Wesen hineinversetzen kann, sieht die Welt mit anderen Augen. Wissenschaftler des Virtual Human Interaction Lab an der Universität Stanford fanden heraus, dass virtuelle Erlebnisse durchaus auch das reale Leben prägen können. Experimente mit Probanden, denen per VR-Simulation vermittelt wurde, was es bedeutet, farbenblind zu sein, führten dazu, dass die Teilnehmer sich anschließend hilfsbereiter gegenüber Farbenblinden verhielten. Die Cardboard-App „A Walk through Dementia“ vermittelt Nutzern Symptome von Demenz und weckt so Verständnis für Menschen, die von dieser Krankheit betroffen sind. Subjektive Erfahrungen lassen sich dank virtueller Vermittlung teilen. Der eigene Erkenntnishorizont wird erweitert. Im besten Fall entstehen Mitgefühl und Toleranz.

Der Filmemacher Chris Milk zeigte mit seinem 360°-Film „Clouds over Sidra“ das Leben im jordanischen Flüchtlingscamp Zaatri aus der Perspektive eines 12-jährigen syrischen Mädchens. Wer den Film mit einem Head-Mounted Display anschaut, sieht die Welt mit Sidras Augen, als säße er direkt neben ihr im Flüchtlingslager. Die VR-Dokumentation wurde im Auftrag der Vereinten Nationen realisiert. Die UNO setzt auf solche Produktionen, um Geld für die Betreuung von Opfern des Syrienkonfliktes zu sammeln. Die Zahl der Spender soll sich dadurch verdoppelt haben. Im UN-Film „Waves of Grace“ wird virtuell ein Ausschnitt aus dem Leben einer jungen Frau in Afrika dokumentiert, die eine Ebola-Erkrankung überwunden hat. Der Zuschauer ist plötzlich mitten im Geschehen, kann miterleben, wie UN-Mitarbeiter versuchen, die Folgen des Ebola-Virus einzudämmen. Kein Wunder, dass Regisseur Chris Milk davon spricht, VR-Projekte seien „Empathie-Maschinen“. Immersion, so wird deutlich, ist mehr als nur ein Spiel mit der menschlichen Wahrnehmung.

ORIENTIERUNGSPROBLEME MIT 360°-OPTIK

Die 360°-Perspektive per Datenbrille ermöglicht eine Rundumsicht der Dinge. Dabei wählt der Betrachter selbst die Blickrichtung, was wiederum das Gefühl verstärkt, selbst ein Teil der virtuellen Sphäre zu werden. Der Rundumblick revolutioniert den Umgang mit Medien. YouTube hat für 360°-Videos einen eigenen Channel geschaffen. Längst bieten Kodak, Ricoh, Samsung, LG oder Nikon kompakte 360°-Kameras, mit denen es auch Laien möglich ist, Fotos und Videos aus allen Richtungen aufzunehmen und damit computergenerierte, virtuelle Umgebungen zu schaffen. Die Preise für solche semiprofessionellen Kameras liegen größtenteils unter denen von Spiegelreflexkameras. Die Geräte erstellen als sogenannte One-Shot-Lösung eine fertige Datei. Das so entstandene Material muss nicht mehr per Computer bearbeitet werden und kann leicht über Online-Portale oder Social Media verbreitet werden. Allerdings lässt die Qualität oft noch zu wünschen übrig. Professionelle Filmemacher verwenden deshalb komplexere Verfahren. Dabei kommen modulare Stative (Rigs) mit acht bis sechzehn einzelnen Kameras zum Einsatz, deren Bilder schließlich am Computer während der Postproduktion zusammengefügt werden. Dieser Prozess wird Stitching genannt und ist für die Qualität des Endproduktes von entscheidender Bedeutung.

Für das 360°-Filmen müssen alle Kameras exakt synchronisiert und bei der Nachbearbeitung Belichtungsunterschiede ausgeglichen werden. Zu den technischen Herausforderungen kommen bei der 360°-Optik noch inhaltliche hinzu. Das größte Problem besteht darin, die einzelnen Sequenzen so aufzubereiten, dass Zuschauer die Szenerie selbst entdecken können, zugleich aber die Aufmerksamkeit immer auf die wesentlichen Dinge gelenkt wird. Storyboard und Storytelling müssen also so konzipiert sein, dass das Publikum dem Geschehen auch dann folgen kann, wenn es sich selbst orientieren muss. Daraus resultieren zwei zentrale Fragen. Erstens: Wie müssen Protagonisten im Raum agieren, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Rezipient seinen Fokus auf Bild-Elemente außerhalb der eigentlichen Handlung legt? Und zweitens: Lässt sich der Blick der Zuschauer steuern? Einige Regisseure versuchen inzwischen, mit akustischen Mitteln die Aufmerksamkeit zu lenken. Auch der Rhythmus der Bildschnitte und Kameraschwenks wird zum Problem, wenn jede Kopfbewegung mit Datenbrille im Grunde selbst wie ein Schwenk wirkt. Schnelle Schnittfolgen könnten deshalb nicht nur den menschlichen Wahrnehmungsapparat überfordern, sondern auch Schwindelgefühle erzeugen.

 
Menschen mit VR-Brillen, Magazin Tendenz der BLM

ERLÖSUNGSPHANTASIEN UND HORRORSZENARIEN

Wer mit dem Head-Mounted Display virtuell in fremden Universen unterwegs ist, der kann schnell die Orientierung verlieren. Stimmen die optischen Eindrücke nicht mit dem überein, was der eigene Körper an Bewegungssignalen wahrnimmt, kann einem nicht nur schwindelig werden. Oft kommt auch Übelkeit hinzu. Das Phänomen tritt häufig bei als subjektiv erlebten Veränderungen im virtuellen Raum auf, wenn sich der künstlich vermittelte Standort schnell verändert. Dann fahren Gleichgewichtssinn und Orientierung Achterbahn. Der Effekt wird als Cyber-Sickness oder VR-Motion-Sickness bezeichnet. Welche physischen Langzeitfolgen die Nutzung der VR-Technologie hat, lässt sich derzeit noch nicht absehen. Hinzu kommen mögliche psychische Nebenwirkungen. Illusion, Konstruktion von Wirklichkeit und Manipulation: All das ist möglich, weil mediale 3D-Inhalte täuschend echt wirken. Wenn die VR-Empathie-Maschine Mitgefühl auslösen kann, warum sollen dann nicht auch verzerrte Darstellungen vermeintlicher Wirklichkeit – positiv wie negativ – das soziale Verhalten ändern?

Löst eine Technologie die Grenzen zwischen Realität und virtueller Realität auf, weil sich im Bewusstsein der Nutzer eine Mischung aus beiden Bereichen manifestiert, entsteht ein großer Spielraum zum Philosophieren und Spekulieren über potenzielle Wirkungen. Der Begriff der virtuellen Realität löst als Oxymoron gleichermaßen Erlösungsphantasien wie Horrorszenarien aus. VR-Enthusiasten versprechen nicht weniger als die Möglichkeit, sich dank der 360°-Perspektive immer das ganze Bild machen zu können. Kulturkritiker warnen hingegen vor einer Hyperrealität, die Wirklichkeit nur simuliere. Irgendwie erinnern solche Diskussionen ein bisschen auch an die Debatten, die vor fast 200 Jahren anlässlich der ersten Eisenbahnen geführt wurden. Kritiker, so lautet eine umstrittene Behauptung, sollen damals „unfehlbar schwere Gehirnerkrankungen“ vorausgesagt haben. Und was machten die Menschen? Sie nutzten die neue Technologie einfach.

 
Virtual Reality
Als Virtual Reality (VR) wird eine computergenerierte Wirklichkeit mit Bewegtbild (3D) und in vielen Fällen auch mit Ton bezeichnet. Entsprechende Angebote können mit speziellen Headsets (Head-Mounted Displays) genutzt werden. Dabei bilden Datenbrillen 3D-Bilder ab. Menschliche Bewegungen von Kopf und Körper werden durch spezielle Sensoren erfasst (Tracking), sodass Nutzer mit und in der virtuellen Umgebung auch interagieren können. Das Eintauchen in digital erzeugte virtuelle Welten wird als Immersion bezeichnet.
 
Mixed Reality
Wird virtuelle Realität mit der echten Wirklichkeit gekoppelt, handelt es sich um Mixed Reality. Das ist der Fall, wenn technische Hilfsmittel wie etwa Smartphones oder Datenbrillen Informationen über Elemente unserer Lebensumwelt bieten, die sonst nicht erkennbar sind. Die computergestützte Erweiterung der Wahrnehmung von Wirklichkeit wird auch als Augmented Reality bezeichnet.
 
360°-Videos
Moderne Kamerasysteme können Bilder aus allen Richtungen sowohl horizontal als auch vertikal in einem Bereich von 360 Grad aufnehmen. Für den Betrachter, der schließlich selbst die Perspektive wählen kann, entsteht ein dreidimensionales Raumgefühl. Zur virtuellen Realität werden so erzeugte Bilder der Wirklichkeit, wenn Menschen sich mit Hilfe von Datenbrillen direkt in diese gefilmten Welten hineinbegeben können.

 
VR-Systeme im Vergleich
PlayStation VR Oculus Rift HTC Vive
Display OLED / 5,7 Zoll OLED / 5,7 Zoll OLED / 5,7 Zoll
Auflösung 1920x1080
(960 x1080 pro Auge)
2160x1200
(1080x1200 pro Auge)
2160x1200
(1080x1200 pro Auge)
Sichtfeld 100 Grad 110 Grad 110 Grad
Bildfrequenz 120 Hz, 90 Hz 90 Hz 90 Hz
Tracking PlayStation Kamera CMOS Sensor Laser-Positionsmesser „Lighthouse“
Controller Dualshock 4, PS Move (optional) Xbox-One-Controller, Oculus Touch (optional) Steam VR Controller
Anschlüsse HDMI/USB HDMI/USB HDMI/USB


Fotos: iStock.com: Marco_Piunti; THEPALMER; Melpomene/Shutterstock.com; © 2017 Microsoft HoloLens; Shutterstock.com: wavebreakmedia, Monkey Business Images

Dr. Matthias Kurp
Dr. Matthias Kurp ist Professor im Fachbereich Journalismus/Kommunikation der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln. Zuvor arbeitete er freiberuflich als Medienforscher und Journalist (Print, Online, TV, Hörfunk).
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