Ganz gleich ob Pop oder Oper, Independent Sound oder Symphonieorchester: Die Musikindustrie baut auf die Zukunft virtueller Konzert-Erlebnisse. Mit App und Internet, Headset oder Datenbrille wird aus dem eigenen Zuhause eine Konzertarena.
TEXT BRIGITTE BAETZ
„Es ist toll, für Menschen in aller Welt zu spielen, mit ihnen in Kontakt zu treten“, sagt Crimecraft. Der DJ aus San Francisco mit dem ausgefallenen Künstlernamen war mutmaßlich der erste, der seine DJ-Fähigkeiten live im virtuellen Raum erprobt hat. Sein Auftraggeber ist
WaveVR, ein Start-up aus Austin/Texas. Das Unternehmen verspricht nichts Geringeres als „die Zukunft der Live-Musik“ – so der unbescheidene Slogan. Wer den virtuellen Online-Club von WaveVR betritt, begibt sich in einen Strudel visueller Reizüberflutung: psychedelische Farben im Look der 70er-Jahre, Wände, die im Rhythmus pulsieren, Lichtsäulen, die im Takt vibrieren. Doch real ist hier nichts. Auch der DJ steht, wie seine Zuschauer und Zuhörer, für sich allein in einem Raum, mit einem Headset auf dem Kopf und zwei Steuergeräten, sogenannten Controllern, mit denen er die Musikanlage des Computers bedient. Einsam soll sich im virtuellen Club trotzdem niemand fühlen. Langfristig ist daran gedacht, Nutzern nicht nur ein Live-Club-Erlebnis zu präsentieren, sondern ihnen auch untereinander die Möglichkeit zur Interaktion zu bieten. Und damit nicht nur Hör- und Sehsinn bedient werden, gibt es längst sogenannte Augmented Bass Devices, die Frequenzen unter 100 Hz direkt auf Rücken und Zwerchfell übertragen.
Virtuelle Musik-Experimente sind in der Club-Szene nichts Neues. Schon in den 90er-Jahren lockten Mind Machines, die ähnlich aussahen wie heute die VR-Brillen, vor allem das Techno-Publikum in die angesagten Clubs. Die Geräte konnten Schall mit Leuchteffekten synchronisieren, um Nutzer wahlweise aufzuputschen oder zu entspannen. Neu ist jetzt allerdings, dass alles zu Hause nutzbar ist, man also nicht mehr zu einem bestimmten Ort fahren muss. Speziell für die Clubkultur heißt das: kein Anstehen, keine Kontrollen durch unfreundliche Türsteher. Das gilt natürlich auch für große Pop-Konzerte. In diesem Bereich schließen oft weite Anfahrtswege und Eintrittspreise, die bei großen Stars schon mal dreistellige Höhen erreichen können, viele Interessierte aus.
Live-Events per App
Einer der ersten Künstler, die es Zuschauern ermöglichten, ein virtuelles 360°-Konzert zu besuchen, war Paul McCartney. Gute Sicht war garantiert, gefilmt wurde auf und von der Bühne. Realisiert hatte das Ganze 2014 die VR-Firma
Jaunt aus Palo Alto. Das vor vier Jahren gegründete Unternehmen produziert mit selbst entwickelter Kamera- und Softwaretechnologie für Medienunternehmen, Werbetreibende und Künstler VR-Inhalte, die über die eigene Plattform beziehungsweise über eine eigene App verbreitet werden. Zu den Jaunt-Kunden zählen beispielsweise das Royal Opera House in London und der Bezahlsender Sky. Minderheitsgesellschafter sind seit Oktober 2015
Axel Springer und
ProSiebenSat.1. Aber auch die großen Musikfirmen versuchen, beim VR-Trend mitzumischen. Die
Universal Music Group verspricht ihren Kunden, dass sie mit der Plattform
VRTGO und der dazu gehörigen App Live-Events und Musik-Auftritte „so intensiv wie nie zuvor“ genießen könnten. Die
Warner Music Group wiederum will mit der App
Melody VR Erfolge feiern. Das Musiklabel kündigte an, dass für die neue Plattform „Hunderte von VR-Erlebnissen“ aus den Jahren 2015 und 2016 bereit stehen werden.
Noch halten sich die Anbieter damit zurück, für ihre Apps Geld zu verlangen. Erst soll sich das Publikum mit den Angeboten vertraut machen und sich ein Markt etablieren. Auch Plattformbetreiber wie die
Deutsche Telekom versuchen sich an der – für Nutzer noch kostenlosen – VR-Event-Musikvermarktung: Das Berliner Konzert der Red Hot Chili Peppers wurde 2016 per 360°-Technik in vierzig Länder live gestreamt und on Demand zur Verfügung gestellt.
Hoffnung auf neue Erlösmodelle
Nicht nur im Techno- und Pop-Bereich schreitet die „musikalische Umsetzung“ von Virtual Reality voran.
Google ist beispielsweise mit der Hamburger
Elbphilharmonie eine Partnerschaft eingegangen. Mittels Google Street View, 360°-Kameratechnologie und Google Cardboard lässt sich das architektonische Vorzeigegebäude virtuell erkunden. Das Eröffnungskonzert wurde am 11. Januar per YouTube in Echtzeit und als VR-Event übertragen. Die
Münchener Philharmoniker wiederum kooperieren mit der
Süddeutschen Zeitung, um über die
VR-App der SZ 360°-Einblicke in Konzertproben zu geben. Vorreiter auf dem klassischen Digitalmarkt waren eigentlich die
Berliner Philharmoniker. Mit ihrer
Digital Concert Hall vermarkten sie seit einigen Jahren ihre Konzerte live via Internet gegen Geld – allerdings noch nicht mit VR-Effekten. Da sind ihre Kollegen in Los Angeles schon weiter. Das
LA Philharmonic Orchestra hat sogar schon eine eigene
VR-App. Als erstes 360°-Konzert präsentierte es via App – kostenlos – Beethovens 5. Symphonie. In Großbritannien fand 2016 das
Digital Takeover of the Royal Festival Hall statt – die erste große VR-Produktion eines Symphonie-Orchesters im Vereinigten Königreich. Der
Independent beschrieb das Erlebnis folgendermaßen: „Für Außenstehende mag es komisch ausgesehen haben, aber unter dem Headset war es großartig.“
Vielleicht findet die Musikbranche ja mit Virtual Reality neue Erlösmodelle, nachdem sie 2016 nach zwanzigjähriger Talfahrt erstmals wieder steigende Umsätze verbuchen konnte. Als Ausweg aus dem Dilemma sinkender CD-Verkäufe gilt, mit Konzerten mehr Geld zu verdienen. Mit den Mitteln virtueller Realität lässt sich für viele das Konzerterlebnis noch intensivieren: zeitgleich für Millionen von Kunden – und das weltweit.
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