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Das Magazin der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien

Das Partizipationsparadoxon
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Das Partizipationsparadoxon

Die Entwicklung von der Medien- zur Netzwerkgesellschaft eröffnet Spielräume für mehr Partizipation, verändert aber auch sämtliche Kommunikationsstrukturen. Die öffentliche Meinungsbildung wird zunehmend durch Intermediäre wie Google, Facebook oder YouTube beeinflusst – geprägt durch eine ökonomisch motivierte Algorithmen-Logik. Außer Partizipation können auch Propaganda, Hass und Shitstorms die Folgen sein. Ein Klimawandel?

Text Jan-Hinrik Schmidt

Die dynamische Entwicklung des Internets, die vor etwa 25 Jahren begonnen hat, zieht tiefgreifende, gesellschaftliche Folgen nach sich. Eine davon ist der Wandel von Öffentlichkeit, verstanden als die kollektiv wahrnehmbare Sphäre des Austausches von Informationen und der wechselseitigen Bezugnahme zu Themen von gesellschaftlicher Relevanz. Sie kann auch in Situationen der Kopräsenz entstehen, also bei Versammlungen, Demonstrationen oder den alltäglichen Begegnungen auf Marktplätzen, in Kneipen und Cafés. Doch in modernen Gesellschaften ist sie untrennbar mit der Medienkommunikation verbunden, mehr noch: Unsere Demokratie beruht (auch) auf dieser Medienöffentlichkeit. Medienkommunikation unterstützt die Bürgerinnen und Bürger in ihrer freien Meinungs- und Willensbildung, und sie ist darüber hinaus ein wichtiger Eckpfeiler des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Medienöffentlichkeit und Meinungsbildung

Diese Leistungen, die Medienöffentlichkeit erbringen kann und soll, beruhen auf verschiedenen Mechanismen. Erstens vermitteln Medien Informationen zu Ereignissen oder Themen, die über den alltäglich erfahrbaren Nahraum hinaus gehen: Die beiläufige Aufnahme von Informatio­nen, die interessierte Lektüre der journalistischen Bericht­erstattung zu einem aktuellen Thema, die gezielte Suche nach vertiefenden Infor­mationen über ein persönliches Interessengebiet – in all diesen Situationen liefern Medien die Grundlage dafür, dass wir unsere Haltung zu relevanten Themen und anstehenden Entscheidungen formieren, verstärken oder verändern können.

Damit geht einher, dass Medien bestimmte Themen erst auf die „Tagesordnung“ der Gesellschaft setzen können, indem sie diese in ihre Berichterstattung aufnehmen und als wichtig kennzeichnen (Agenda Setting). Dabei rücken sie in der Regel auch bestimmte Teilaspekte eines Themas in den Vordergrund und legen Interpretationsrahmen nahe (Framing). Und schließlich können Medien einen Eindruck davon vermitteln, wie die Verbreitung verschiedener Meinungen in der Gesellschaft aussieht. Wir erhalten in den Medien also auch Anhaltspunkte, ob wir mit unserer Meinung eher allein dastehen oder uns in der Mehrheit befinden. Man mag bei diesen Mechanismen zunächst nur an den Nachrichtenjournalismus denken. Doch Medienöffentlichkeit erstreckt sich auch auf fiktionale Inhalte oder kulturelle Angebote. Sie wirken gesellschaftlich synchronisierend und integrierend, da sie orientierende Werte, Normen und Rollenvorbilder kommunizieren und das kollektive Erinnern ermöglichen.

Zugleich vermitteln Medien einen Eindruck von der großen Vielfalt an Interessen und Zielen, die in ausdifferenzierten Gesellschaften existiert. Daraus wiederum können Konflikte resultieren, die es zu lösen gilt. Denn nur wenn sie geregelt und produktiv ausgetragen werden und in einen Interessensausgleich münden, statt die reine Macht der Stärkeren zu bestätigen, hält eine Gesellschaft zusammen. Auch in dieser Hinsicht hat die Medienöffentlichkeit eine wichtige Aufgabe, denn sie sollte möglichst für alle Stimmen innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zugänglich sein. Dann kann sie eine Arena bilden, in der gesellschaftliche Gruppen um Unterstützung für kollektive Ziele wettstreiten und bindende Entscheidungen über die Wege dorthin legitimieren.

Von Massenmedien zu Intermediären

Über lange Strecken des 20. Jahrhunderts hinweg lieferten publizistische Massenmedien, also Printmedien sowie Hörfunk und Fernsehen, die Grundlage für Medienöffentlichkeit und die daran anknüpfenden Leistungen. Das Aufkommen des Internets lockerte diese Konstellation bereits Ende der 1990er-Jahre auf, und das „Web 2.0“ hat nach der Jahrtausendwende den Strukturwandel der Medienöffentlichkeit beschleunigt. Zunächst senkten Blogs und Wikipedia die Hürden für das Erstellen, Verbreiten und Bearbeiten von Informationen aller Art. Sie erweiterten das Spektrum verfügbarer Informationen und forderten zugleich das Gatekeeper-Prinzip heraus, nach dem nur einige wenige professionelle Expertinnen und Experten in Redaktionen über die Auswahl und Prüfung von Informationen entscheiden.

Ab Mitte der 2000er-Jahre kamen innovative soziale Online-Netzwerke wie YouTube, Facebook und Twitter hinzu, die sich in Verbindung mit dem Siegeszug der Smartphones und anderer mobiler Kommunikationsgeräte rasch etablierten. Sie versetzten Menschen in die Lage, ihre eigene persönliche Öffentlichkeit zu schaffen und anderen jederzeit, an jedem Ort mitzuteilen, was sie denken und erleben. Damit standen neue digitale Plattformen für ein Partizipationsversprechen, das sich in den Formulierungen ihrer Ziele exemplarisch artikuliert: „Unsere Mission ist es, allen eine Stimme zu geben und ihnen die Welt zu zeigen“ (YouTube) oder „Facebook gives people the power to share and make the world more open and connected“ (Fassung von 2009). In diesem „Mitmachnetz“ sollten Nutzerinnen und Nutzer keine passiven Empfänger der Massenmedien mehr sein, sondern sich selbst präsentieren und Beziehungen aller Art pflegen können.

Die Betreiber der sozialen Online-Netzwerke hoben in diesem Zuge stets hervor, dass sie „Plattformanbieter“ seien, die keine eigenen Inhalte produzieren und zudem den transportierten oder erschlossenen Informationen grundsätzlich neutral gegenüberträten. Dieses Insistieren auf die Vermittler-Rolle diente vor allem dazu, die Verantwortung für die Abläufe und Inhalte auf der eigenen Plattform möglichst umfassend abzuwehren und der Politik keinen Anlass zu bieten, sie in das Regime der Medienregulierung einzugliedern. Diese Strategie war einige Jahre sehr erfolgreich, doch nach und nach wurde deutlich, dass die sogenannten „sozialen Medien“  zwar anders als publizistische Medien funktionieren, aber deshalb nicht weniger prägend für Meinungsbildung und Medienöffentlichkeit sind. Denn sie setzen durch ihre technische Gestaltung und die zugrundeliegenden Geschäftsmodelle wesentliche Rahmenbedingungen für Kommunikation und Informationsaustausch. Dies macht sie zu Intermediären, also zu eigenständigen und machtvollen Eckpfeilern der gegenwärtigen Medienöffentlichkeit. Zu Intermediären, die im neuen Medienstaatsvertrag stärker reguliert werden sollen, gehören Suchmaschinen wie Google genauso wie die Social Communities Facebook, Instagram, Twitter und TikTok oder das Videoportal YouTube.

Drei Prinzipien der Architektur von Intermediären

Um die Bedeutung der Intermediäre zu begreifen, lohnt sich ein Blick auf ihre kommunikative Architektur. Jenseits aller Unterschiede in technischen Details und Funktionsweise lassen sich drei grundlegende Organisationsprinzipien identifizieren.

Erstens betreiben Intermediäre eine Ent- und Neubündelung von Informationen: Sie erschließen Informationen, die von unterschiedlichen Akteuren und aus unterschiedlichen Quellen stammen und zunächst als „Microcontent“ – etwa als Tweet, als Facebook-Eintrag oder als YouTube-Video – vorliegen. Diese Inhalte erreichen die Nutzerinnen und Nutzer nicht mehr in etablierten publizistischen Formaten mit eigenen zeitlichen Rhythmen (wie der „Sendung“ oder der „Ausgabe“), sondern in Gestalt der augenblicklich erstellten, oft auch ständig aktualisierten „Streams“ oder „Timelines“. Welche Inhalte diese Ströme speisen und wie sie angeordnet sind, unterliegt nicht mehr der redaktionellen Entscheidung, sondern im Wesentlichen der algorithmischen Selektion. 

Damit ist das zweite Organisationsprinzip der Intermediäre angesprochen. Algorithmische Selektion kann in verschiedene Richtungen mit Parametern versehen und optimiert werden, doch derzeit dominiert das Paradigma der Personalisierung von Informationsangeboten. Nutzerinnen und Nutzer tragen ihren Teil dazu bei, indem sie bestimmte Akteure, Profile oder Accounts als Kontakte hinzufügen, „subscriben“ oder ihnen „folgen“, mithin diese als Quel­len dem eigenen personalisierten Informationsstrom hinzufügen. Doch ein wesentlicher Teil der Personalisierung geschieht ohne unser direktes Zutun: Die Intermediäre setzen Empfehlungs- und Filtermechanismen ein, die unser vergangenes Verhalten mit Metadaten über unsere Person und so­ziale Einbettung kombinieren, um jeweils spezifische Informationen ein- bzw. auszublenden oder als Empfehlungen hervorzuheben.

Der Social Community gegenüber wird diese algorithmische Personalisierung mit dem – zweifelsfrei oft zutreffenden – Argument gerechtfertigt, relevantere und bessere Informationen präsentieren zu können. Aus Betreibersicht ist das entscheidende Erfolgskriterium allerdings, dass beziehungsweise ob sich Reichweite und Verweildauer im eigenen Angebot erhöhen, die sich wiederum durch Werbung monetarisieren lassen. Denn dies führt außerdem dazu, dass sich mehr Datenspuren der Nutzerinnen und Nutzer ergeben. Auf dieser Grundlage lassen sich dann nicht nur personalisierte Inhalte, sondern lässt sich insbesondere auch möglichst zielgruppengenaue Werbung anzeigen, mithin ökonomischer Profit generieren.

Neue Formen der Kommunikation

Das dritte Organisationsprinzip, das Intermediäre kennzeichnet, ist die Konvergenz von Konversation und Publikation. Lange Zeit waren diese beiden Kommunikationsmodi recht klar voneinander zu trennen: Massenmedien operierten im Modus des „Publizierens“, das heißt, wenige Akteure wählten Informationen nach einem Set professioneller Kriterien aus und verbreiteten sie an ein breites, verstreutes Publikum, das nicht auf dem gleichen Kanal zurück kommunizieren konnte. Im Modus der „Konversation“ sind hingegen die Rollen von „Sender“ und „Empfänger“ nicht klar verteilt, sondern wechseln häufiger, etwa im Gespräch von Angesicht zu Angesicht oder am Telefon.

In den sozialen Online-Netzwerken findet sich auch publizistische Kommunikation, wenn etwa journalistische Redaktionen Facebook-Seiten oder Twitter-Accounts betreiben, um ihre Nachrichten und Inhalte zu verbreiten. Zugleich erleichtern Intermediäre die Anschlusskommunikation zu veröffentlichten Inhalten, indem sie Kommentare und explizite Bewertungen (etwa in Form von „Likes“ oder „Thumbs up“) für das Publikum sichtbar machen. Weil es technisch sehr leicht möglich ist, einzelne Beiträge an das eigene Kontaktnetzwerk weiterzuleiten und zu empfehlen, fördern Intermediäre zudem die unter Umständen rasante schneeballartige Verbreitung von Informationen.

 „Integrierte Netzwerköffentlichkeit“

Intermediäre verdrängen somit publizistische Medien nicht, verändern aber aufgrund ihrer erkennbar anderen Medienlogik das Umfeld, in dem diese operieren. Medienöffentlichkeit wandelt sich zu einer integrierten Netzwerköffentlichkeit (Christoph Neuberger), in der verschiedene kommunikative Räume mit unterschiedlichen Reichweiten und Medienlogiken existieren, die wechselseitig miteinander verflochten sind. Dies hat Konsequenzen für die oben skizzierten Mechanismen der Meinungsbildung und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

In dieser Hinsicht ist zunächst festzustellen, dass sich die Menge und das Spektrum der verfügbaren Informationen deutlich vergrößert haben. Das lässt sich als wünschenswerte Zunahme von Vielfalt deuten, weil mehr und andere Stimmen und Weltsichten Eingang in den öffentlichen Diskurs finden – man denke etwa an marginalisierte Gruppen oder Informationen aus anderen Weltregionen. Zugleich wird es unwahrscheinlich, dass sich in den sozialen Online-Netzwerken ähnlich übergreifend gesamtgesellschaftliche Themen setzen und Debatten synchronisieren lassen, wie wir es von den Massenmedien kennen.

Deutlich größer hingegen sind die Chancen für themen- oder interessenspezifische Subgruppen, sich dort zu finden und auszutauschen. Solange sich solche Gemeinschaften die Offenheit für Informationen und Ansichten jenseits des eigenen partikularen Interesses bewahren, und solange es daneben publizistische Medien gibt, die Informationen nach breiter gesellschaftlicher Relevanz auswählen und möglichst objektiv aufbereiten, wäre der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht bedroht, sondern wohl eher gestärkt.

Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts?

Allerdings liefern empirische Studien aus den vergangenen Jahren wie etwa der jährlich durchgeführte Digital News Report des Reuters Institute Indizien, dass sich ein momentan noch kleiner Teil der Bevölkerung vorrangig oder ausschließlich auf das personalisierte Informations­bouquet der sozialen Netzwerke verlässt. Dies kann Ausdruck mangelnden Interesses an gesellschaftlich relevanten Themen sein oder auch des verfestigten Misstrauens gegenüber dem „Mainstreamjournalismus“, sodass sich diese Menschen vorrangig aus „Alternativmedien“ unterschiedlicher Couleur informieren. Solches Verhalten ist insofern beunruhigend, als es von dort oft nur ein kleiner Schritt ist in die Echokammern von extremen politischen Ideologen, von Leugnern des Klimawandels, von Anhängern obskurer Verschwörungstheorien und anderer wissenschaftsfeindlicher Esoterik. Diese Ansichten und Argumente haben aus guten Gründen keinen Platz in den journalistischen Medien. In den sozialen Online-Netzwerken allerdings florieren solche Nischen, wo sich Gleichgesinnte fortwährend in ihrer eigenen Meinung bestärken oder gar radikalisieren können.

Soziale Online-Netzwerke können den gesellschaftlichen Zusammenhalt aber nicht nur gefährden, insoweit sie die Chance erhöhen, dass sich problematische Weltsichten festigen, sondern auch indem sie den geregelt ausgetragenen Disput zu unterminieren drohen (siehe Artikel „Zwischen Emotion und Desinformation“). Ihre Medienlogik belohnt das Kurze, das Zugespitzte und das Polarisierende mit Likes, Retweets und algorithmisch generierten Empfehlungen, kurz: mit erhöhter Aufmerksamkeit. Das muss nicht zwingend dazu führen, dass kein verständigungsorientierter Austausch mehr stattfindet, denn gesellschaftliche Debatten benötigen pointierte Beiträge, die den eigenen Standpunkt deutlich markieren. Aber zur Verständigung gehört auch das Nachfragen, das Abwägen, das Aufeinanderzugehen. Diese kommunikativen Akte haben es dann schwer, sich durchzusetzen. Hinzu kommt, dass mittlerweile klar erkennbar ist, wie rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppen die Grenzen gesellschaftlich akzeptabler Äußerungen kontinuierlich ausreizen und durch Überschreitung zu verschieben versuchen. Dies schlägt sich punktuell auch in den journalistischen Medien nieder, wenn etwa Talkshows rhetorischen Brandstiftern unkommentiert eine Bühne bieten. Vor allem aber gärt es in den sozialen Online-Netzwerken, wo populistische Rhetorik allzu oft in Hassrede umschlägt, also in verunglimpfende, verhetzende, sexistische oder rassistische Sprache, die nicht mehr vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt ist (siehe Artikel „Gefährliches Gift aus der Grauzone“).

Medienpolitische Gestaltung notwendig

Diese Diagnosen machen deutlich, dass die Regulierung sozialer Online-Netzwerke wichtiger denn je ist, um demokratische Grundlagen von Meinungsbildung und Zusammenhalt zu schützen. Deutschland hat hier in letzter Zeit zwei Regelwerke entwickelt, die dezidiert (auch) Intermediäre in den Blick nehmen. Sie signalisieren international eine Vorreiterrolle, werfen zugleich aber Probleme auf.

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz nimmt die Betreiber sozialer Online-Netzwerke stärker in die Pflicht, rasch auf Hassrede und andere grenzüberschreitende Äußerungen zu reagieren. Eine umfassende und systematische Überprüfung der Folgen dieses Gesetzes steht noch aus, aber es zeigt sich bereits jetzt, wie schwer und delikat die Einstufung von Aussagen dies- und jenseits der Grenzen freier Meinungsäußerung ist. Zudem ist nach wie vor ungeklärt, inwieweit solche sehr grundlegenden Entscheidungen von den privatwirtschaftlich organisierten Intermediären getroffen werden können und sollten.

Der neue Medienstaatsvertrag hingegen bezieht erstmals die Intermediäre systematisch in die Medienregulierung mit ein und formuliert unter anderem Vorgaben, um die Medienvielfalt auch unter Bedingungen algorithmischer Selektion zu gewährleisten. Die Konkretisierung durch die Landesmedienanstalten wird zeigen, inwieweit sich dieses Ziel erreichen lässt. Sie erarbeiten für diese Vorgabe gerade einen regulatorischen Rahmen, der auch auf ihren Forschungsergebnisse zum Thema Intermediäre basiert (siehe Artikel „Wie Google, Facebook & Co. die Meinungsbildung beeinflussen“). Besonders interessant verspricht die Umsetzung der Transparenzvorschriften zu werden, die für algorithmische Filter- und Empfehlungsmechanismen zukünftig gelten. Die mathematischen Prozeduren wird man vermutlich (wie gefordert) allgemeinverständlich erläutern können. Aber sie sind zum Verständnis des konkreten Outputs nicht hinreichend. Denn zu welchem Ergebnis die algorithmischen Systeme führen, hängt maßgeblich davon ab, welche Datenbestände (über eine Person und deren Nutzungssituation, aber auch über den Pool der möglichen Inhalte) als Input und Trainingsdaten für maschinelles Lernen zugrunde liegen. Hier wird es hoffentlich bald innovative Ansätze geben, den Nutzern nachvollziehbar zu erläutern, warum ihnen welche Inhalte angezeigt wurden.

Keine Gegenmacht für Facebook, Google und Co.

Doch so lobenswert (und politisch mühsam) diese Regelungsversuche auch sind, sie berücksichtigen das wesentliche Problem der gegenwärtigen integrierten Netzwerköffentlichkeit zu wenig: Einige wenige Anbieter monopolisieren eine historisch nicht gekannte Fülle von Daten über nahezu alle Aspekte unseres Alltags. Der Macht, diese Datensammlung kontinuierlich auszuweiten und daraus ökonomischen Profit zu schöpfen, steht bislang keine adäquate gesellschaftliche Gegenmacht gegenüber. Mitspracherechte haben die Nutzer nicht: Facebook, Google und Co. reduzieren sie auf die Konsumenten-Rolle. Und selbst eines der wenigen Druckmittel, das in dieser Rolle noch bliebe, nämlich das Ausweichen auf alternative Anbieter, ist für viele keine wirkliche Option – denn zu den meisten großen Plattformen gibt es aufgrund der Netzwerk- und Lock-in-Effekte schlicht keine halbwegs vergleichbare Alternative.

Im Kern werfen die sozialen Online-Netzwerke daher ein „Partizipationsparadoxon“ auf: Einerseits ermöglichen sie die Teilhabe vieler Menschen an öffentlicher Meinungsbildung und Debatte, auch indem sie Themen und Argumente sichtbar machen, die möglicherweise in den journalistischen Medien kein Gehör finden. Andererseits entziehen sie sich als (Medien-)Konzerne selbst der gesellschaftlichen Gestaltung und Kontrolle. Es ist eine der drängendsten (medien-)politischen Herausforderungen zu Beginn der 2020er-Jahre, dieses Paradoxon aufzulösen und Voraussetzungen zu schaffen, dass sich Alternativen zu den derzeit dominierenden Intermediären etablieren können.

Artwork: rose pistola
Unsplash.com: Ludvig Wiese, Prince Akachi; Alex Gontar/Shutterstock.com
Porträt Dr. Jan-Hinrik Schmidt: Leibniz-Institut für Medienforschung

Bild Jan-Hinrik Schmidt

Dr. Jan Hinrik Schmidt ist Senior Researcher für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut in Hamburg und erforscht Effekte sozialer Online-Netzwerke.

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