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Positionen & Reden

Hin und her - „Big Brother" und mehr: Ein epd-Interview mit BLM-Präsident Wolf-Dieter Ring

11.03.2000 | P&R
(mit freundlicher Genehmigung der epd medien , Ausgabe vom 11.März 2000)

Die Landesmedienanstalten befinden sich noch im Diskussionsprozess, was die Beurteilung der neuen RTL-2-Spielshow „Big Brother" betrifft (vgl. Meldung in dieser Ausgabe). Die LPR Hessen als Aufsicht führende Landesmedienanstalt hatte empfohlen, die auf 100 Tage angelegte Sendung zu verbieten, weil sie gegen die Menschenwürde verstoße. Ein Beschluss dazu wurde auf der entsprechenden Sitzung der Gemeinsamen Stelle Jugendschutz und Programm der Landesmedienanstalten nicht gefasst, weil RTL 2 eine Konzeptänderung angeboten hatte und noch weitere Erfahrungen mit der Serie gesammelt werden sollen. Mit dem Vorsitzenden der Gemeinsamen Stelle Jugendschutz und Programm, Wolf-Dieter Ring, sprach Uwe Kammann über programm-, gesellschafts- und medienpolitische Fragen, die sich exemplarisch aus der Debatte um „Big Brother" ergeben (vgl. auch den Beitrag „Total normal. Die aktuell entdeckte TV-Moral: eine Entdeckung?" in epd 7/2000). Ring ist Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM).

epd: Das Verbot einer laufenden Sendung wäre in Deutschland ein Präzedenzfall. Sind auch deshalb die Meinungsverschiedenheiten heftig gewesen bei der Diskussion der Gemeinsamen Stelle Jugendschutz und Programm, nachdem die hessische Landesmedienanstalt eine solche Verbotsempfehlung vorgelegt und damit das Verfahren in Gang gesetzt hat?

Ring: Natürlich gehen die Meinungen ein Stück hin und her. Es gibt unterschiedliche Auffassungen. Wir haben die Beratungen noch nicht abgeschlossen, sondern uns erst einmal ausgetauscht. Wir haben auch kein Meinungsbild abgefragt, sondern einfach in der Sache diskutiert. Die Beratungen zum hessischen Antrag, der auf ein Verbot der Sendung wegen des Verstoßes gegen den Programmgrundsatz der Menschenwürde hinauslief, wurden vor allem deshalb nicht abgeschlossen, weil der Sender RTL 2 – vertreten durch den Geschäftsführer und die Jugendschutzbeauftragte – im Rahmen eines Gesprächs ein Angebot in die Sitzung eingebracht hat. Danach soll die Rundum-Überwachung ein Stück weit verändert werden, indem ein Freiraum geschaffen wird, wo sich die Mitspieler zeitweise aufhalten können, ohne von Kameras und Mikrofonen überwacht zu werden. Das ist eine Änderung des Konzepts, die uns veranlasst hat, neu nachzudenken. Und die zum Wunsch auch bei der Aufsicht führenden und anstoßgebenden LPR Hessen geführt hat, die Diskussion noch einmal aufzunehmen und fortzuführen. Dies auch unter dem Gesichtspunkt, dass wir dann weitere Erkenntnisse und Eindrücke aus den laufenden Einzelsendungen haben.

Ist dieses Zugeständnis des Senders eher auf starken äußeren Druck und die heftige öffentliche Diskussion zurückzuführen oder eher auf die Angst, einer rechtlichen Zwangsmaßnahme durch die Landesmedienanstalten ausgesetzt zu werden?

Ich glaube nicht, dass RTL-2-Geschäftsführer Josef Andorfer durch öffentliche Diskussionen in besonderer Weise beeinflusst worden ist. Sie sind ja teilweise auch zurückhaltend, es ist von Langeweile die Rede, auch davon, dass alles unspektakulär verläuft. Herr Andorfer hat uns gegenüber noch einmal betont, genau dies sei die Idee des Formats, bei „Big Brother" solle das Normale, das Unspektakuläre ablaufen. Da bin ich spektisch. RTL 2 sagte außerdem, viele Zuschauer wünschten inzwischen eine Weiterführung des Formats, auch jene, die es vorher stark kritisiert hätten. Entscheidend ist nach meiner Auffassung die Frage, wie die Landesmedienanstalten mit diesem Format und diesen Sendungen im Einzelnen umgehen. Unsere ernste Diskussion hat den Geschäftsführer durchaus beeindruckt und ihn offensichtlich auch so beeinflusst, dass er dieses Angebot mit der Einschränkung der totalen Überwachung der Kandidaten auf den Tisch gelegt hat.

„Sehr substanzieller und grundsätzlicher Vorwurf"

Haben sich die Landesmedienanstalten selbst unter Druck gefühlt? Schließlich kommt oft der Vorwurf, sie nähmen zwar bei Beanstandungen einen gewaltigen Anlauf, erwiesen sich dann aber als zahnlose Tiger. Spielt so etwas zumindest im Hinterkopf eine Rolle?

Das steht sicher nicht im Vordergrund. Deutlich wurde vielmehr gesagt, hier gehe es um einen schwergewichtigen, sehr grundsätzlichen und substanziellen Vorwurf gegenüber einem Sender. Eine mögliche Verletzung des hochrangigen Rechtsguts der Menschenwürde kann eine erhebliche negative Wirkung haben, auch auf das allgemeine Image eines Senders. Dass wir in einer Phase, wo sich die Konzeption etwas ändert und wir weitere Erfahrungen mit den Sendeinhalten haben und sammeln, die Meinungsfindung nicht in einer Sitzung abschließen, sondern die neuen Entwicklungen und die weiteren Sendungen mit berücksichtigen wollen, ist sinnvoll. Die LPR Hessen wurde gebeten, mit RTL 2 die Einzelheiten für die geänderte Konzeption zu besprechen und uns dann auf der neuen Basis wieder eine Vorlage mit der neu formulierten Position zu schicken. Am 14. März werden wir uns wieder treffen. Der Entscheidungszeitraum richtet sich auch nicht nur nach dem 100-Tage-Experiment. Vielmehr handelt es sich hier um einen ganz grundsätzlichen Sachverhalt und um eine Frage, die auch andere Formate – darunter auch mögliche Nachfolgeformate – betrifft. Deshalb müssen wir hier sehr sorgfältig beraten.

Menschliche Würde: Das ist ein so schlichtes wie großes Wort. Wie kann man diesen weiten Begriff – der in allen Rundfunkgesetzen als Dach über den Schutzgrundsätzen steht – überhaupt definieren?

Bei der Jugendschutzarbeit und auch bei unserer Programmarbeit merken wir besonders deutlich, dass wir in einer Gesellschaft leben, die auf der einen Seite durch zunehmende Werteveränderungen gekennzeichnet ist, auf der anderen durch höchst plurale Wertevorstellungen. In einem solchen Umfeld ist es sehr viel schwieriger, Wertungen vorzunehmen und Orientierungen vorzugeben, als in Zeiten, in denen die Grundpositionen klarer waren. Außerdem merken wir bei der Rundfunkaufsicht, wie groß die Bandbreite von Positionen bei solchen Wertefragen ist.

Trifft das speziell auch bei dieser Serie zu?

Das gilt auch bei diesem Format. Was manchen – und das gilt natürlich auch grundsätzlich – als Verstoß gegen die Menschenwürde vorgekommen ist, hat für andere diese Qualität noch nicht erreicht. Betont wird auch, dass hier Kandidaten zusammenkommen, die aufgeklärt sind über die Abläufe und die jederzeit aus diesem Experiment aussteigen können. Es ist sehr schwer, gegen dieses Argument des Einverständnisses und der jederzeitigen Ausstiegsmöglichkeit anzudiskutieren. Dennoch: Andere sehen die Menschenwürde berührt, weil die Kandidaten hier Intimes offen legen, weil Privates öffentlich wird, weil hier Menschen unter kommerziellen Gesichtspunkten dar- und ausgestellt werden, weil grundsätzlich die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit überschritten wird. Mithin: Hier sehen sie einen allgemeinen Rechtsgrundsatz verletzt, obwohl die Beteiligten in die Sache eingewilligt haben.

Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und objektiver Rechtsordnung

Ist in der jetzigen Diskussion auch das Argument aufgetaucht, dass Freiheit – die ja mit der Freiwilligkeit verbunden ist – die allerhöchste Kategorie menschlicher Würde sein könnte? In dem Sinne, dass jedem zuzubilligen ist, über sich entscheiden zu können, auch dann, wenn diese Freiheit durch spezielle Anreize – wie Medienruhm oder Geldgewinn – beeinflusst oder indirekt eingeschränkt sein könnte? Sprich: Ist die theoretische Wahl- und Willensfreiheit, unabhängig von allen Einflussfaktoren, das prägendste Merkmal für individuelle Verfügungsmacht und personale Integrität?

Es gibt ein Spannungsfeld zwischen der individuellen Freiheit – wo man sich eben selbstbestimmt auch solchen Situationen aussetzen kann und darf – und dem eher kollektiven Verständnis einer objektiven Rechtsordnung, die durch Anforderungen an eine allgemein verstandene Menschenwürde geprägt ist. Danach könnte in eine tief greifende und grundsätzliche Verletzung der eigenen Menschenwürde niemand einwilligen. Die Freiwilligkeit ginge danach nicht so weit, dass – öffentlich vermittelt – jemand in einen äußeren Verstoß gegen seine eigene Menschenwürde einwilligen darf; auch nicht mit dem Zusatzargument, gerade diese Freiwilligkeit sei Teil seiner Menschenwürde. Auch nach meiner Auffassung wäre das eine Individualisierung, die man nicht akzeptieren kann und darf. Es gibt eine objektive Werteordnung, in der sich auch Fernsehprogramme bewegen müssen. Entsprechend unterliegen sie Anforderungen, wie sie in den Programmgrundsätzen zum Ausdruck kommen und wie sie über staatliche Einrichtungen den Sendern auferlegt werden.

Der Staat hat also auch in diesem Fall eine Fürsorgepflicht? Eine Fürsorgepflicht, die zu Unrecht als Paternalismus und damit als Einschränkung des persönlichen Freiheitsrechts kritisiert würde?

Er hat eine Schutzpflicht gegenüber den Teilnehmern, immer vorausgesetzt, dass dieser Eingriff in die Menschenwürde von besonderer Intensität ist. Genau deshalb aber ist es so schwierig, die richtige Grenze zu ziehen.

Zum Stichwort Verschiebung der Menschenrechte sagt der von RTL 2 beauftragte Gutachter Lothar Mikos, dass die Serie ein Symptom für verschobene und ausdifferenzierte Werteordnungen sei, aber keinesfalls die Ursache. Wurde in der Diskussion der Landesmedienanstalten dieses Argument auch aufgeführt?

Wir haben gesellschaftspolitische Fragestellungen angesprochen und sind zur Auffassung gekommen, dass sich hier auch ein gesellschaftliches Phänomen zeigt. Dass solche Sendungen Erfolg haben und sich Menschen dafür zur Verfügung stellen, hat natürlich mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun. Die Frage der Werteverschiebung wurde auch in unserem Gremium diskutiert. Fernsehen – das ist vielleicht der wichtigste Punkt dabei – hat zwar verstärkende Effekte in diesen Fragen und damit eine hohe publizistische Verantwortung, aber es ist nicht die Ursache der feststellbaren gesellschaftlichen Veränderungen. Unstreitig ist aber auch, dass man mit und über Sendungen wie „Big Brother" bestimmte Problemlagen salonfähig machen kann.

Verschobenes Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit

Ein Ausdruck dieser Verschiebungen kann sein, dass Privatheit und Öffentlichkeit heute von vielen im Spannungsverhältnis anders verstanden werden, dass sie als Konsequenz kaum oder keinerlei Scheu mehr haben, auch höchst Privates nach außen zu kehren. In zahlreichen anderen Sendungen, prototypisch den Nachmittag-Talkshows, ist das ja zu besichtigen.

Genauso ist es. Wir haben eine Entwicklung in der Gesellschaft, wo es offensichtlich nicht mehr als besonders problematisch empfunden wird, wenn Intimes oder Privates öffentlich dargestellt wird. Die angesprochenen Talkshows leben geradezu von diesem Konzept. Auch dort haben wir, trotz der kritischen Diskussion, rechtlich nur wenig beanstanden können.

Nun treffen sich hier anscheinend auch viele Neigungen und Interessen: so Exhibitionismus und Voyeurismus, so Provokationslust und Sensationsgier, so Tabubruch und Lust wegen der Grenzverletzungen. Gehört das notwendig zum produktiven Spannungsfeld einer freien, sich über individuelle Vorstellungen stets neu entwerfenden Gesellschaft?

So sehr die Verabsolutierung von Individualität nicht Maßstab sein kann und folglich objektive Werte und eine allgemeine Rechtsordnung in die Bewertung öffentlicher Sachverhalte einfließen müssen, so sehr muss andererseits ein anderes Prinzip in der Gesamtbewertung beachtet werden: das der Rundfunkfreiheit. Zwar lassen sich nicht unter Berufung auf das Prinzip der Rundfunkfreiheit Eingriffe in die Menschenwürde rechtfertigen. Aber in Zweifelsfällen und Grauzonen müssen wir diesen Rechtsgrundsatz der Rundfunkfreiheit im Auge haben und dieses Prinzip beachten. Man kann die Landesmedienanstalten nicht anstelle von Ordnungs- oder Jugendschutzämtern zur Sittenpolizei der Nation machen. Es ist nicht uninteressant, dass sich die Bundesärztekammer nicht zuständig gefühlt hat, obwohl sie von der LPR Hessen mit der Fragestellung angeschrieben worden war, ob es sich bei „Big Brother" um einen Menschenversuch handele. Das Ordnungsamt der Stadt Köln wiederum hat festgestellt, es handele sich hier nicht um einen Verstoß gegen die Menschenwürde und damit auch nicht um einen Verstoß gegen bestimmte Prinzipien der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.

Und wie steht es mit der Internet-Verbreitung des Experiments?

Bei den Internet-Behörden ist bislang niemand aktiv geworden – obwohl rund um die Uhr auf der „Big-Brother"-Seite Beobachtungskameras angewählt werden können und sich die Nutzer des Netzes praktisch uneingeschränkt einen Zutritt in die Intimsphäre der Teilnehmer verschaffen können. Bei der Internet-Verbreitung sind die Landesmedienanstalten nicht zuständig, jedenfalls nach heutiger Rechtslage. Auch deshalb darf man nicht ein Glied in einer Kette von Einrichtungen und Umständen alleine herausgreifen und beurteilen, sondern man muss, auch bei den Zuständigkeiten, den Gesamtzusammenhang im Auge haben.

Die Rundfunkfreiheit nicht aus den Augen verlieren

Könnte die Gefahr, Zensur auszuüben und damit an anderer Stelle einengend zu wirken, größer sein als die Gefahr, dass bei „Big Brother" eine persönliche Schutzgrenze berührt oder verletzt wird?

Nochmals, ganz klar: Rundfunkfreiheit kann nicht dazu dienen, die Verletzung von Menschenwürde zu rechtfertigen. Trotzdem betone ich: Wir sind ein Stück unsensibler geworden bei der Frage nach der Rundfunkfreiheit. Manche Geschmacks- und Wertediskussionen werden mit dem Ziel geführt, die Freiheit gerade dort einzuschränken, wo es nicht um solche Grundrechtsverletzungen geht. Vom Jugendschutz bis zur Anmahnung von Programmgrundsätzen bei den Landesmedienanstalten ist festzustellen: Oft wird hier mit Vokabeln wie Geschmack oder Unbehagen gearbeitet. Doch solche Maßstäbe können wir nicht anwenden, dafür sind wir nicht da. Wir können insoweit lediglich mit unseren Gremien eine gesellschaftspolitische Diskussion führen – das tun wir auch –, und wir haben Rechtsanwendungen durchzusetzen.

Ministerpräsident Kurt Beck sagte am Sonntag in einer 3sat-Diskussion, die „Big Brother"-Debatte dürfe nicht zu einer Geschmacksdiskussion werden. Kann man das überhaupt verhindern? Denn Fragen der Moral – übersetzt als allgemein geteilte Sitten und Gebräuche – lassen sich gar nicht trennen von Geschmacksauffassungen und dort festzustellenden Veränderungen.

Eine scharfe Trennlinie lässt sich tatsächlich nicht ziehen. Die „Big Brother"-Diskussion ist allerdings auch in erster Linie keine Geschmacksdebatte, sondern eine ganz prinzipielle Auseinandersetzung. Ich wiederhole: Wir haben in unserer Verfassung ein sehr wichtiges Grundprinzip, das auch nicht durch die Aufforderung an die Landesmedienanstalten außer Kraft zu setzen ist, in Einzelfällen heftig zuzuschlagen – eben das Prinzip der Rundfunkfreiheit. Die Landesmedienanstalten sind ein Teil dieses Rundfunksystems. Sie haben auch die Aufgabe, Freiräume zu erhalten, wenn und solange sich diese Freiräume im Rahmen des geltenden Rechts befinden. Ihre Aufgabe ist nicht, auf Grund einer begleitenden kritischen öffentlichen Diskussion in diese garantierten Freiräume einzugreifen.

„Boykottaufrufe sind legitim"

Sehen Sie in Boykottaufrufen zur Sendung – sie betrafen speziell die Werbewirtschaft – auch einen tendenziellen Eingriff in die Rundfunkfreiheit?

Das ist ein Teil der gesellschaftspolitischen Diskussion. Es ist legitim, den Unternehmen, die im Umfeld problematischer Sendungen werben, klarzumachen, dass sie damit Formate unterstützen, die eine bestimmte gesellschaftliche Kritik auslösen. Es kommt darauf an, wie intensiv ein solcher Aufruf ausfällt. In der jetzigen Form ist es ein durchaus möglicher Weg, mit solchen Problemlagen fertig zu werden.

Kann es sein, dass die jetzt ausgelöste öffentliche Diskussion am Ende viel wirksamer ist als alles, was an Rechtsmitteln denkbar ist und auch durchzusetzen wäre?

Beides gehört untrennbar zusammen. Man braucht die Ordnungspolitik –- mit Bewertungen, Anmahnungen des geltenden Rechts, Verfahren, Sanktionen bis hin zu Bußgeldern –, aber man braucht auch eine gesellschaftspolitische Diskussion. Das eine kann das andere nicht ersetzen. Wenn beides zusammenkommt, lässt sich auch die größte Wirkung erzielen.

Im ab April geltenden novellierten Rundfunkstaatsvertrag ist ein neuer Passus formuliert, der den Schutz der menschlichen Würde ausdehnt – die danach auch auf „sonstige Weise" verletzt werden kann. Wird das hilfreich sein, weil dann die Definitionsfreiheit größer wird, oder öffnet das eher der Willkür bei der Auslegung Tür und Tor?

Die neue Vorgabe – die Menschenwürde kommt jetzt mehrfach vor, mit unterschiedlichen Formulierungen – macht deutlich, dass der Gesetzgeber annimmt, dass der Schutzgrundsatz größeren Risiken der Verletzung ausgesetzt ist. Zu dieser Schlussfolgerung kommt auch der Rechtswissenschaftler di Fabio in einem von der BLM in Auftrag gegebenen Gutachten. Er warnt vor neuen Gefährdungen auch durch Medien in modernen Gesellschaften; Gefährdungen, die in Richtung 'Verletzung der Menschenwürde' gehen. Ganz ähnlich sieht es offensichtlich der Gesetzgeber, sonst hätte er nicht mehrfach in der Novellierung den Grundsatz der Menschenwürde angesprochen. Uns muss in der programmlichen Bewertung klar sein, dass wir hier einen besonderen Auftrag haben. Das darf aber nicht dazu führen, jetzt die neuen Passagen besonders extensiv auszulegen und damit in Problemlagen zu geraten. Wir dürfen schließlich nicht vergessen, dass es ausschließlich um elementare Rechtsverstöße gehen kann, die auf dieser Grundlage festgestellt würden. Folglich muss die Intensität der Verletzung besonders groß und damit ausreichend sein, bevor wir eingreifen dürfen. Es wird immer auf den Einzelfall ankommen.

„Auch eine Diskussion in Wellen"

Die Diskussion um das so genannte Pfui-TV – so eine plakative „Bild"-Schlagzeile – gibt es seit Anfang der 90er Jahre. Ist die Reizspirale, in der sich gerade kommerzielles Fernsehen bewegt, um über Tabu- und Grenzverletzungen Quote zu machen, noch immer im Beschleunigungszustand, steigt der Grad der tendenziellen Verletzungen noch an, oder erleben wir hier auch eine typische Diskussion in Wellen?

Es ist auch eine Diskussion in Wellen. Wir dürfen beim Stichwort Pfui-TV beispielsweise nicht vergessen, dass wir seit vielen Jahrzehnten – als es noch kein privates Fernsehen gab – auch über Gewalt im Fernsehen diskutiert haben, und dies sehr kritisch. Diese öffentliche Diskussion hat bei den Öffentlich-Rechtlichen aufgehört, seit es die private Konkurrenz gibt. Die Gewaltdarstellungen haben allerdings keineswegs nachgelassen. Überhaupt gibt es, unabhängig von den problematischen Formaten, eine ganze Reihe von problematischen Inhalten im Fernsehen, und zwar auch – obgleich in anderen Größenordnungen – bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. Wir haben derzeit die Neigung, ein paar Formate in den Vordergrund zu rücken und daran die Grundsatzdiskussion zu führen. Doch Fernsehen hat eine Reihe anderer Problemlagen, und die haben eher zugenommen.

Welche haben Sie speziell im Auge?

Zum Beispiel die zunehmenden Gewaltdarstellungen bei Eigenproduktionen im Hauptabendprogramm, neue Sendungen im Bereich Reality-TV, Jugendschutz im digitalen Fernsehen, um nur einige Fragestellungen zu nennen.
Was können denn die kritischen Diskussionen bewirken?

Eine kritische Diskussion, wie wir sie beispielsweise bei den Talkshows geführt haben und wie sie jetzt mit Blick auf die Psychoshows geführt wird, kann vor allem bewirken, dass besonders Problematisches erst gar nicht stattfindet. Man sollte sich also nicht auf das spezifische Sendeformat konzentrieren, sondern darauf, dass bereits die allgemeine Grundsatzdiskussion in der Gesellschaft eine präjudizierende Wirkung haben kann, beispielsweise hinsichtlich der Einkaufspolitik der Sender.

Hat es Sie ganz persönlich erschreckt, dass die schwärzeste der Gesellschaftsutopien, die lange Zeit mit dem Großen Bruder geradezu modellhaft warnend zitiert wurde, bei dieser Fernsehserie frivol umgekehrt wird und die abschreckende Totalüberwachung zur unterhaltsamen Spielshow mutieren soll? Sind vielleicht auch deshalb so viele Menschen ziemlich heftig berührt?

Ob wirklich so viele Menschen heftig berührt sind, ist schwer zu beurteilen. Es waren sicher auch andere Erwartungen daran geknüpft. Jetzt scheinen eher die Enttäuschungen zuzunehmen.

'Wenn Sie nicht ordnungspolitisch gefordert wären: Hätten Sie dieses Programm, über die professionelle Neugier hinaus, mehr als ein- oder zweimal angeschaut?

Ich habe ohnehin nur sehr bedingt und begrenzt Zeit zum Fernsehen. Doch glaube ich kaum, dass ich mich für dieses Format interessiert hätte. Nun gehöre ich aber bekanntlich auch nicht zum Kern der Zielgruppe. Die berühmte 49 liegt schon hinter mir.

Erinnern an die publizistische Verantwortung

Glauben Sie, dass der RTL-2-Geschäftsführer in gewisser Weise geläutert aus diesem Prozess hervorgeht? Trotz aller Spekulationen auf eine kostenlose werbefördernde Begleitdiskussion war wahrscheinlich nicht zu erwarten, dass die öffentliche und auch die interne Kritik so heftig werden würde. Mithin: Wie zerknirscht war er bei Ihrer Anhörung?

Darüber kann man nur rätseln. Aber ich glaube schon, dass ihn die Diskussion beeindruckt hat. Er muss auch spüren, und das ist wichtig für den Geschäftsführer eines Unternehmens mit publizistischer Verantwortung – sowohl gegenüber den Zuschauern als auch gegenüber der Gesellschaft, natürlich im speziellen Fall auch gegenüber den Teilnehmern an der Show –, dass hier in Deutschland eine solche Diskussion sehr kritisch geführt wird. Es muss ihn ja schon deshalb beeindrucken, weil er beim Ausstrahlen solcher Formate einen wirtschaftlichen Schaden riskiert. Sei es über ein negatives Verhalten der Werbewirtschaft auf Grund solcher Diskussionen, sei es, weil es tatsächlich zu einem Rechtsverfahren kommt und dann mit hohen Beträgen vorproduzierte oder vorbereitete Programme gar nicht ausgestrahlt werden können. Schon deshalb wird er sich sehr sorgfältig mit dieser Kritik auseinander setzen. Dass er in einigen Punkten ganz anderer Meinung ist als beispielsweise die Landesmedienanstalten, das ist legitim. Wie er allerdings die „Big-Brother"-Show zu einem Programm der Wertevermittlung umdefinieren will, das habe ich bislang noch nicht verstanden.

Hat es der eine oder andere Ihrer Kollegen in dieser Runde verstanden?

Wir haben miteinander gerätselt, was der RTL-2-Geschäftsführer im Einzelnen damit meint, doch hat er es nicht näher belegt. Bis auf allgemeine Grundsätze, dass hier jungen Leuten vermittelt werde, wie man miteinander leben, miteinander sprechen und mit Konflikten umgehen kann. Dem haben wir entgegengehalten: Dass über die Gruppe nacheinander jeweils zwei Kandidaten für den Rausschmiss vorgeschlagen werden und am Schluss einer gewinnt, das sei nicht gerade das leuchtendste Beispiel für gelungene Formen des Zusammenlebens.

Ist das vielleicht eine besondere Form der schwarzen Pädagogik?

An dieser Stelle enthalte ich mich einer Bewertung.